Was bei der Bewertung von Übersterblichkeit beachtet werden muss
Am 5. Mai hat die WHO eine Studie veröffentlicht, in der die weltweite Übersterblichkeit in den Jahren 2020 und 2021 auf 14,9 Millionen Personen geschätzt wird. Die Schätzung für einzelne Länder stieß auf Kritik, insbesondere weil bei der Berechnung der erwarteten Anzahl der Toten unplausible Werte angenommen wurden (vergleiche Actuaries Response Group). Eine angekündigte Korrektur des Modells wurde inzwischen von einem der Studienautoren, Jonathan Wakefield, Professor of Statistics and Biostatistics, University of Washington, veröffentlicht (Preprint und Supplement). Die Übersterblichkeit für Deutschland in dem korrigierten Modell liegt damit in der gleichen Größenordnung wie die Schätzungen des statistischen Bundesamts. Darüber hinaus gibt es inzwischen auch Bedenken der Actuaries Response Group bezüglich der Zahl der gestorbenen Personen in weiteren europäischen Ländern.
Auf den ersten Blick scheint die Berechnung der Übersterblichkeit in einer Bevölkerung einfach: Von der Zahl der in einem festgelegten Zeitraum verstorbenen Personen wird die Zahl der Todesfälle abgezogen, die man in diesem Zeitraum aufgrund der langjährigen Sterberaten erwartet hat. Ist das Resultat negativ, ist die Zahl der erwarteten Todesfälle größer als die tatsächlich gezählten, es liegt also eine Untersterblichkeit vor. Bei einem positiven Ergebnis übersteigt die Zahl der gezählten Toten die Zahl der erwarteten, man spricht von einer Übersterblichkeit.
Sowohl die Zahl der beobachteten (Observed) als auch der erwarteten (Expected) Todesfälle ist in der Praxis allerdings nicht immer leicht zu bestimmen, sodass die Rechnung Observed - Expected nicht leicht durchführbar ist.
Observed
Zumindest in vielen entwickelten Staaten existiert eine recht zuverlässige Statistik der Todesfälle. Hier kann die Zahl der in einem Zeitraum verstorbenen Personen daher leicht bestimmt werden. In Ländern, in denen eine solche Statistik nicht existiert oder nicht vollständig ist, muss die Zahl der Verstorbenen dagegen geschätzt werden. Ein solches Vorgehen ist selbstverständlich mit Unsicherheit belastet. Eine solche Schätzung kann zum Beispiel über vergleichbare Länder mit vorhandenen Daten durchgeführt werden. Kriterien für die Vergleichbarkeit können die Altersstruktur, die Bevölkerungsdichte, wirtschaftliche Daten und Information über das Gesundheitssystem sein. Aber auch in Staaten mit zuverlässigen Daten können Sterbefallmeldungen aus jüngerer Vergangenheit noch ungenau sein, weil Nachmeldungen und Plausibilitätskontrollen noch nicht erfolgt sind. Das Statistische Bundesamt erklärt dies in den methodischen Hinweisen zu seiner Sonderauswertung der Sterbefallzahlen. Im WHO-Modell wird zwar eine Korrektur für die Unvollständigkeit der Daten verwendet, diese kann aber auch wieder eigene Artefakte in den Daten erzeugen.
Expected
Die Berechnung der erwarteten Zahl der Toten für einen Zeitraum ist deutlich komplizierter. Hier genügt es nicht sich nur einen mittleren Wert der vergangenen Jahre anzusehen, da sich die Zusammensetzung einer Bevölkerung stetig verändert. In Deutschland zum Beispiel altert die Bevölkerung, die oberen Altersgruppen nehmen also einen größeren Anteil der Bevölkerung ein. Dadurch steigt automatisch über die Zeit die erwartete Anzahl an Todesfällen pro Jahr. Eine steigende Lebenserwartung senkt diese Zahl.
Insgesamt steigt die erwartete Zahl an Toten in Deutschland. Die Zahl der erwarteten Verstorbenen für Deutschland wurde im veröffentlichten WHO-Modell zu niedrig geschätzt, wie die Actuaries Response Group aufzeigt. Die Schätzung nimmt eine sinkende Todeszahl im Vergleich zu den Vorjahren an, was für Deutschland nicht plausibel ist. Grund hierfür ist die in Deutschland niedrige Zahl an Todesfällen in 2019. Das im WHO-Modell verwendete statistische Schätzverfahren (long-term spline) wurde zu stark von diesem Wert beeinflusst. Dadurch wurde die Übersterblichkeit zu hoch geschätzt. Im korrigierten Modell wird ein linearer Trend verwendet, der nun zu einer geschätzten Übersterblichkeit von 122 000 (95 Prozent Kredibilitätsintervall [101 000, 143 000]) für beide Jahre kommt. Dies passt in der Größenordnung besser zu den Werten, von denen auch das statistische Bundesamt ausgeht. Zum Vergleich: in Deutschland sterben pro Jahr etwa eine Million Menschen.
Interpretation für ein Land
Für die Interpretation der Übersterblichkeit in einem Land sollte zuerst überprüft werden, ob die Werte für Observed und Expected plausibel erhoben beziehungsweise geschätzt wurden. Bei der Interpretation von Übersterblichkeit im Rahmen der Pandemie ist darauf zu achten, dass die in der Pandemie getroffenen nicht pharmazeutischen Maßnahmen zum Beispiel dafür gesorgt haben, dass die sonst üblichen Grippewellen in 2020 und 2021 fast komplett ausgeblieben sind. Hier wurde also eine Untersterblichkeit erzeugt, die einen Teil der zusätzlichen COVID-19-Toten “aufrechnet”. Ebenfalls kann die Über- oder Untersterblichkeit für einzelne Altersgruppen anders ausfallen. Eine Übersterblichkeit in den oberen Altersgruppen kann sich im Gesamtwert hypothetisch durch eine Untersterblichkeit in den unteren Altersgruppen ausgleichen und umgekehrt. Über größere Zeiträume gleichen sich Über- und Untersterblichkeit wieder aus, da “zu früh gestorbene” Personen in einem späteren Zeitraum “fehlen”. Je älter die gestorbenen Personen sind, desto schneller gleicht sich dieser Effekt aus.
Vergleich von Ländern
Wie bei vielen absoluten Maßzahlen ist auch bei der Übersterblichkeit ein direkter Vergleich der absoluten Zahlen zwischen Ländern nicht sinnvoll. Durch die unterschiedliche Bevölkerungszahl muss die Zahl der Verstorbenen und damit auch die Übersterblichkeit normiert werden. Üblich sind 100 000 Personen. Aber auch bei der Interpretation der normierten Werte auf Bevölkerungsebene sind einige Punkte zu beachten. Will man zum Beispiel die Effektivität der Corona-Maßnahmen zwischen zwei Ländern vergleichen, git es noch weitere Einflussvariablen, die dabei eine Rolle spielen. Das Land mit der jüngeren Bevölkerung kann sich zum Beispiel eine höhere Inzidenz leisten, ohne dass die Übersterblichkeit in der Gesamtbevölkerung höher liegen muss. Das hängt mit der stark altersabhängigen Infektionssterblichkeit zusammen. Deutschland mit seiner alten Bevölkerung hat also einen natürlichen Nachteil im Vergleich mit anderen Ländern. Dieses Problem kann man umgehen, indem man die Übersterblichkeit in den einzelnen Altersgruppen vergleicht. Hier wäre also die Fragestellung, ob ein Land seine 70-Jährigen besser geschützt hat als ein anderes Land. Auch andere relevante Einflussvariablen wie Bevölkerungsdichte müssen beachtet werden.
Lars Koppers, Datenwissenschaftler am SMC Lab
Volker Stollorz, Geschäftsführer
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