Aktuelle Arzneimittelmisere in Deutschland – ein Update
Apothekerschaft berichtet erneut über Arzneimittelengpässe, Kochsalzlösungen vorübergehend knapp
Grundproblem bekannt, nachhaltige Lösungen bedürfen Zeit und Geld
neue Statements von Forschenden, Hinweis auf bisherige Aussendungen
Erneut meldet die Apothekerschaft zu Herbstbeginn Lieferengpässe bei Arzneimitteln. Derzeit mehren sich Berichte über eine Knappheit bei Kochsalzlösungen, die etwa für Operationen notwendig sind, aber auch für die Medikamentenherstellung. Die Engpässe sind heute auch Thema einer Aktuellen Stunde im nordrhein-westfälischen Landtag. In vergangenen Jahren sorgte ein Mangel an Fiebersäften für Kinder für ein breites Medienecho.
Seniorprofessorin für pharmazeutische und medizinische Chemie, Institut für Pharmazie und Lebensmittelchemie, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Aktuelle Lage
„Ich finde es kurios, dass das Thema jetzt hochkocht, denn wir konnten schon im Frühjahr sehen, dass es zum Beispiel bei den Kochsalzlösungen Probleme geben könnte. Braun und Fresenius, die beiden entscheidenden Hersteller, hatten damals schon Schwierigkeiten gemeldet. Kochsalzlösungen sind für Operationen oder zur Herstellung von Medikamenten unersetzlich.“
„Wenn wir von Engpässen reden, müssen wir immer auch den Unterschied zur Versorgungslücke ziehen. Nicht jeder Engpass ist versorgungstechnisch relevant. Wenn bestimmte Blutdruckmittel mal schwer zu bekommen sind, ist das kein Versorgungsproblem. Es kann sich um einen Arzneistoff handeln, aber wir können auf andere Arzneimittel ausweichen. Bei Kochsalzlösungen ist die Lage anders, da sie aseptisch, also keimfrei, hergestellt werden müssen. Braun hat mitgeteilt, dass man bis Ende des Jahres nur 50 Prozent des Bedarfs decken könne. Das ist schon eine Hausnummer. Fresenius wiederum, der zweite große Lieferant, kann das nicht auffangen. Und gleichzeitig können die pharmazeutischen Universitätsinstitute in Deutschland Kochsalzlösungen nicht palettenweise herstellen. Daher würde ich im Fall der Kochsalzlösung derzeit tatsächlich von einem Versorgungsengpass sprechen. Geänderte Anforderungen der Herstellung von Arzneien nach der Leitlinie der ,Guten Herstellungspraxis‘ (GMP) aus dem Jahr 2023 können für den Versorgungengpass allein nicht verantwortlich sein. Im Augenblick ist offensichtlich die Ursache dieses Lieferengpasses unklar.“
„Ein solcher Versorgungsengpass tritt eigentlich immer ein, wenn man keine Ausweichmöglichkeiten hat. Hochproblematisch sind zum Beispiel Engpässe bei Antibiotika. Ja, wir haben viele Antibiotika. Aber für eine leitliniengerechte Behandlungen brauchen wir je nach Behandlung bestimmte Antibiotika. Sind die nicht lieferbar, ist der Umstieg auf andere Antibiotika zwar möglich, aber nicht im Sinne der Leitlinie und damit nur die zweitbeste Therapie. Salbutamol zur Behandlung von Asthma oder Atomoxetin gegen ADHS können Sie ebenfalls nicht mal eben ersetzen. Beide Arzneien waren zuletzt von Engpässen betroffen. Hier sind wir schnell bei der Versorgungsrelevanz, weil die Patienten auch nicht so einfach umzustellen sind.“
Gründe für Engpässe
„Wie es nun zum aktuellen Engpass von Kochsalzlösungen gekommen ist, erschließt sich mir allerdings noch nicht. Einen erhöhten Bedarf sehe ich nicht. Es gab zwar zum Beispiel zuletzt ein paar mehr Operationen als in Vorjahren, wohl auch noch eine Art Corona-Nachholeffekt, aber diese paar Prozent sind meines Erachtens nicht relevant für eine deutlich erhöhte Nachfrage hierzulande. Es könnte wie gesagt am aseptischen Herstellungsprozess liegen. Den machen Braun und Fresenius nicht allein, beide Firmen kaufen die fertigen Lösungen bei zumeist deutschen Firmen ein. Eine andere Erklärung könnten aktuelle Kriege sein: Es könnte sein, dass vermehrt Lieferungen umgelenkt werden. Das ist nur eine These von mir, ich habe dafür keine eindeutigen Belege. Aber es liegt nahe.“
„Grundsätzlich sind die Probleme von Lieferengpässen bekannt und ausreichend erforscht: In Deutschland haben wir mit Rabatt- und Festbeträgen die Preise so weit gedrückt, dass für viele Hersteller der deutsche Markt schlichtweg nicht attraktiv ist. Es ziehen sich also immer mehr Hersteller aus der Produktion von einzelnen Arzneimitteln zurück. Das ist ein Trend, der sogar in Asien zu beobachten ist. Wir nähern uns bei einigen Mitteln zunehmend einer Art Monopol. Wenn dann ein Hersteller aus welchen Gründen auch immer ausfällt, und das können schlichtweg auch Naturkatastrophen nahe dem Werk sein, haben wir schon ein Problem.“
Lösungsmöglichkeiten
„Wir hatten vergangenes Jahr mit Lauterbachs Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) einen ersten konkreten Versuch, die Lage anzugehen. Bisher hat sich seitdem nicht viel geändert. Das war auch nicht zu erwarten, weil man nicht an die Margen für die Hersteller herangeht. Bei den Kinderfiebersäften hat man es zaghaft versucht, aber deshalb wird jetzt kein Hersteller auf die Idee kommen, in Deutschland zu produzieren. Aber genau da müssen wir wieder hin. Man darf sich auch fragen, ob wir die strikten Richtlinien hierzulande brauchen. In Deutschland dürfen Sie als Hersteller zum Beispiel in einem Werk nur ein einziges Antibiotikum herstellen, nicht mehrere. Das ist in China anders. Freilich dürfen wir nicht die Sicherheit für den Patienten mindern. Bei aus China kommenden Arzneistoffen sehen wir Verunreinigungen bei Antibiotika, die sogar im europäischen Arzneibuch dokumentiert sind. Aber ich bin mir sicher, es gibt einen Mittelweg. Vor einigen Jahren hat Hoechst, heute Teil von Sanofi, ein wichtiges Antibiotika-Werk für Cephalosporine geschlossen, weil die Produktion in Asien zwei bis drei Prozent billiger war. Wir reden hier nicht von der Hälfte, sondern von wenigen Prozenten. Wir müssen aus dieser asiatischen Abhängigkeit raus.“
„Oft wird auch eine bessere Bevorratung als mögliche Lösung angepriesen. Sie kann kurzfristig helfen, ist aber keine langfristige Lösung. Lager für bestimmte Produkte aufzubauen, ist nicht zielführend. Das bindet nur Kapital, und die Arzneimittel werden womöglich nicht gebraucht. Deswegen brauchen wir die Produktion im Inland oder zumindest in Europa. Ich weiß nicht, ob uns das je gelingen wird. Das bisherige System ist sehr festgefahren. Die EU hat aber einen ersten Vorstoß unternommen und Arzneien ermittelt, die idealerweise auf jeden Fall in Europa produziert werden sollten.“
Professor für Daten- und Lieferkettenanalyse, Hochschule Worms, University of Applied Sciences
Aktuelle Lage
„Bei einer Analyse der Lieferengpassdaten des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zeigt sich, dass sich die Zahl der offenen Lieferengpassmeldungen seit 2023 kaum verändert hat. Im Juni 2023 gab es rund 480 offene Engpässe, aktuell sind es 496 offene Meldungen im Melderegister. Bezieht man die durchschnittliche Zahl der pro Woche neu gemeldeten Lieferengpässe mit ein, ist bestenfalls ein leichter Abwärtstrend seit 2023 erkennbar, wobei die Entwicklung im Herbst und Winter abzuwarten bleibt. Positiv ist jedoch, dass der stetige Anstieg der Lieferengpässe seit 2017 aktuell gebremst scheint. Es ist wichtig zu betonen, dass die Gesamtzahl der Engpässe keine Aussage über die Qualität, also die Bedeutung für die Patientinnen und Patienten, der einzelnen Lieferengpässe zulässt.“
„Der Engpass bei Kochsalzlösungen zeigt, dass es unterschiedliche Gründe für Lieferengpässe gibt, die nicht nur in Asien liegen. Der aktuelle Engpass lässt sich wohl auch auf Schäden an einem wichtigen Werk in North Carolina, USA, durch den Hurrikan Helene zurückführen. Vorausgegangen waren zudem Lieferengpässe Anfang des Jahres bei anderen Herstellern, verursacht durch Probleme bei Zulieferern für Glasflaschen. Aufgrund der hohen globalen Vernetzung in den Lieferketten betrifft dieser Ausfall nicht nur Deutschland, sondern hat weltweit Auswirkungen. So werden auch Lieferengpässe aus Australien und den USA berichtet.“
„Ob ein Lieferengpass, also eine mehr als zwei Wochen andauernde Unterbrechung der Auslieferung durch den Zulassungsinhaber, auch zu einem Versorgungsengpass führt, hängt von den Gegebenheiten am Markt ab, insbesondere von den vorhandenen Beständen bei Großhändlern und Apotheken sowie der Möglichkeit, auf alternative Produkte anderer Hersteller oder alternative Therapien auszuweichen. Eine seriöse Bewertung der Auswirkungen kann in jedem Fall nur individuell und insbesondere aus medizinischer Sicht erfolgen. Wissenschaftliche Studien zeigen jedoch durchaus die negativen Auswirkungen von Lieferengpässen auf die medizinische Versorgungsqualität.“
Gründe für Engpässe
„Schaut man sich die Gründe für gemeldete Lieferengpässe an, zeigen sich weiterhin ganz unterschiedliche Ursachen. Neben unerwarteten Nachfragesteigerungen gibt es verschiedenste Produktionsprobleme als Ursache, von Schwierigkeiten bei Zulieferern bis hin zu Qualitätsproblemen in der eigenen Fertigung. Zudem gehen Produktionsprobleme bei einem Hersteller in der Regel mit Nachfragesteigerungen bei Herstellern von alternativen Produkten einher. Ein systematischer Anstieg von Lieferengpässen aufgrund von Nachfragesteigerungen konnte im März 2020 nach Ausrufung der Pandemie durch die WHO beobachtet werden. Ob eine systematische Häufung aktuell ebenfalls vorliegt, versuchen wir zurzeit empirisch zu ermitteln.“
„Strukturelle Probleme sind Marktverengung, regionale Konzentration und zumindest in Teilen auch Preismechanismen. Zunächst ist die teils problematische Marktverengung zu nennen. Viele der in Generika verwendeten chemischen Wirkstoffe verfügen weltweit über fünf oder weniger Zulassungen, was die Abhängigkeit von wenigen Herstellern erhöht und die negative Auswirkung von Lieferengpässen verstärkt. Weiterhin ist die hohe Konzentration der Wirkstofffertigung in China und Indien problematisch, insbesondere, weil diese bei wichtigen Vorprodukten der Wirkstoffproduktion noch einmal größer ist. Mit der hohen regionalen Konzentration gehen längere Beschaffungswege einher. Zudem gibt es aufseiten der amerikanischen Regulierungsbehörden Beobachtungen, dass Hersteller in Indien und China im Mittel schlechtere Ergebnisse bei Qualitätsinspektionen aufweisen.“
„Zuletzt gibt es mittlerweile auch in der Politik das Eingeständnis, dass gerade bei den für die Breitenversorgung wichtigen generischen Medikamenten die Preisschraube zu weit gedreht wurde. Industrieökonomisch folgen aus niedrigen Preisen weniger Puffer an Beständen oder Kapazitäten. Der Zusammenhang zwischen niedrigem Preisniveau und schlechterer Arzneimittelverfügbarkeit ist mittlerweile auch empirisch belegt.“
„Individuelle Fehler sind im Einzelfall ebenfalls möglich, die Mehrheit der Arzneimittelbestände liegt jedoch bei Herstellern und Großhändlern, also zum Beispiel außerhalb des Entscheidungsbereichs der Apotheken. Wichtige saisonale Produkte wie Fiebersäfte werden zudem bereits ab Sommer auf Vorrat produziert. Eine wichtige Tatsache ist aber auch, dass das Lieferengpassmelderegister nur einen Teil des Geschehens abbildet, da der Fokus auf verschreibungspflichtigen Medikamenten liegt. So waren Lieferengpässe bei Fiebersäften für Kinder im Melderegister nicht erfasst, haben aber nachweislich die Apotheken stark beschäftigt.“
Lösungsmöglichkeiten
„Langfristig gilt es, diese strukturellen Probleme zu adressieren. Eine unbequeme Wahrheit ist jedoch, dass Maßnahmen hierzu mit signifikanten Kosten verbunden sind. Daher darf nicht mit dem Gießkannenprinzip gearbeitet werden. Die datengestützte Identifikation besonders anfälliger Lieferketten ist wichtig, weswegen geplante Marktbeobachtungs- und Frühwarnsysteme des BfArM von großer Bedeutung sind. Um die notwendigen Kosten zu schultern, braucht es absehbar eine engere Verzahnung des Gesundheitswesens mit der Wirtschaftspolitik und der nationalen Sicherheitsstrategie. Zu hoffen ist zudem, dass durch den Einbezug der europäischen Partner größere Maßnahmenpakete umsetzbar werden.“
„Bei aller Diskussion zu Reshoring, also der Wiederansiedlung der Arzneimittelproduktion, sollte auch nicht außer Acht gelassen werden, dass eine weitere Abwanderung der Produktion aus Europa unbedingt vermieden werden muss.“
„Eine kurzfristig umsetzbare, strukturelle Stärkung kann durch eine (weitere) erhöhte Bevorratung geschehen, auch wenn die Mehrkosten hierfür fair honoriert werden müssen, um negative Anreize zu vermeiden. Ebenfalls kurz- bis mittelfristig adressierbar sind weitere Optimierungen des Engpassmanagements und die Erhöhung der Datentransparenz, beispielsweise in Verbindung mit Frühwarnsystemen, um Arzneimittel besser zu verteilen und somit regionale Ungleichverteilungen zu vermeiden. Sinnvoll ist es zudem, nicht nur bei Ausschreibungen von Kassenverträgen für Antibiotika, sondern auch bei anderen Arzneimittelgruppen auf Diversifikation und den Einbezug europäischer Kapazitäten zu setzen.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte.”
„Keine. Ich stehe mit Verbänden, Politik und Unternehmen gleichermaßen im Austausch, agiere als Wissenschaftler nach bestem Wissen und Gewissen neutral.“
Prof. Dr. Ulrike Holzgrabe
Seniorprofessorin für pharmazeutische und medizinische Chemie, Institut für Pharmazie und Lebensmittelchemie, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe keine Interessenkonflikte.”
Prof. Dr. David Francas
Professor für Daten- und Lieferkettenanalyse, Hochschule Worms, University of Applied Sciences
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Keine. Ich stehe mit Verbänden, Politik und Unternehmen gleichermaßen im Austausch, agiere als Wissenschaftler nach bestem Wissen und Gewissen neutral.“