Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf verlorene Lebensjahre in Europa
neue Modellierungen: in 18 europäischen Ländern sind 16,8 Millionen Lebensjahre direkt oder indirekt durch die COVID-19-Pandemie verloren gegangen
Evaluation der Pandemie-Folgen könnte wichtige Erkenntnisse für zukünftige Gesundheitspolitik liefern
laut unabhängigen Fachleuten hilft die Studie, die Folgen der Pandemie besser zu verstehen, allerdings sollten zukünftig idealerweise Echtzeitdaten gesammelt und genutzt werden
Durch die COVID-19-Pandemie sind mehr Lebensjahre verloren gegangen, als wenn sie nicht stattgefunden hätte. Eine Studie aus dem Vereinigten Königreich, die im Journal „Plos Medicine“ erschienen ist, hat nun genauer quantifiziert, wie sich die Pandemie auf 18 europäische Länder ausgewirkt hat (siehe Primärquelle). Insgesamt seien dort 16,8 Millionen Lebensjahre verloren gegangen, davon in Deutschland über zwei Millionen.
Professor für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW)
Zur Studie
„Die COVID-19-Pandemie war ein einschneidendes Ereignis für die gesamte Menschheit. Umso wichtiger ist es, die Ereignisse und seine Folgen so gut wie möglich zu verstehen. Da die Auswirkungen auf Gesellschaften und Gesundheitssysteme sehr komplex sind, ist eine Studie wie die der Kolleginnen und Kollegen, unter Führung des Imperial College London, in der die direkten und indirekten Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Gesamtzahl der verlorenen (auch behinderungsfreien) Lebensjahre quantifiziert werden, sehr hilfreich. Hier wird versucht, über die groben Zahlen der gemeldeten Todesfälle, die auf eine SARS-CoV-2-Infektion zurückgeführt wurden, hinaus das Gesamtbild der Auswirkungen der Pandemie auf Bevölkerungen von 18 Ländern zu berücksichtigen. Die Studie bietet hilfreiche Hinweise zum Gesamtverständnis und zum Umfang der Folgen für die drei Jahre von 2020 bis 2022. Diese Ergebnisse werden dann für verschiedene europäische Länder verglichen.“
Einordnung der Methodik
„Die hier verwendete Methodik kann für entsprechende Untersuchungen verwendet werden. Sie ist verständlich und nachvollziehbar dargestellt.“
nicht-COVID-19-assoziierte PYLL und Effekte von Pandemiemaßnahmen
„Eine Störung des Ablaufs im Gesundheitsbereich bezüglich der Diagnostik und Behandlung von anderen Erkrankungen, die nicht durch COVID-19 hervorgerufen wurden, wie beispielsweise Tumorerkrankungen, wäre ein Beispiel für die indirekten PYLL.“
Auf die Frage, weshalb indirekte PYLL noch anstiegen, nachdem die Impfungen eingeführt wurden:
„Es darf nicht vergessen werden, dass die höchste Anzahl gemeldeter COVID-19-Fälle im Jahr 2022, nach Reduktion beziehungsweise Beendigung vieler Schutzmaßnahmen, berichtet wurde. Jedoch werden auch andere Faktoren, wie zum Beispiel die Überlastung der Gesundheitssysteme, eine Rolle gespielt haben.“
Unterschiede zwischen den untersuchten Ländern
„Unterschiedliche Vorgehensweisen, Maßnahmen und Timing haben sich sicherlich ausgewirkt. Dies bietet gute Gelegenheiten in vergleichenden Studien hilfreiche Lehren für die Zukunft zu ziehen.“
Mehrwert der Studie für zukünftige Pandemien
„Diese Studie liefert weitere Mosaiksteine für unser Verständnis der Pandemie. Eine Umfassende Aufarbeitung und Umsetzung der sich zeigenden Ergebnisse für eine Vorbereitung auf zukünftige Pandemien ist essenziell, um beim nächsten Mal besser vorbereitet zu sein und die Auswirkungen anstehender Pandemien auf unser aller Gesundheit so gering wie möglich zu halten.“
Associate Professor, Abteilung für Biostatistik, Zentrum für Primärversorgung und Public Health (Unisanté), Université de Lausanne, Schweiz
Herr Rousson hat die vorliegende Studie von Ahmadi-Abhari et al. nicht gelesen. Sein Statement zu der Thematik bezieht sich auf die Erkenntnisse seiner eigenen Forschung zu verlorenen Lebensjahren durch die COVID-19-Pandemie.
„Ein Problem bei der Berechnung der Zahl der durch COVID-19 verlorenen Jahre ist der Mangel an Vergleichsmöglichkeiten. Was bedeuten 16 Millionen verlorene Lebensjahre in drei Jahren und 18 Ländern? Wie viel ist viel? Zusammen mit meiner Kollegin Isabella Locatelli haben wir uns diese Fragen in zwei Publikationen gestellt [1] [2].“
„Im zweiten Paper berechneten wir die Anzahl der direkt oder indirekt durch COVID-19 verlorenen Jahre im Jahr 2020 in 30 Ländern – einschließlich 21 europäischen Ländern.“
„Bulgarien war das am stärksten betroffene Land. Männer verloren 106.900 Jahre und Frauen 78.900 Jahre durch COVID-19. Teilt man jedoch diese Anzahl von Jahren durch die Bevölkerungszahl, so entspricht dies 11,8 beziehungsweise 8,2 Tagen pro Person, was weniger beeindruckend erscheinen mag.“
„Eine andere Möglichkeit, sich ein Bild von der Bedeutung der durch COVID-19 verlorenen Jahre zu machen, wäre ein Vergleich mit der Gesamtzahl der Jahre, die die Bevölkerung noch zu leben hat. In Analogie dazu liegt es nahe, den Verlust von Geld als Prozentsatz unserer Ersparnisse auszudrücken. In Bulgarien haben Männer 0,095 Prozent und Frauen 0,077 Prozent der Lebensjahre verloren, die sie ohne COVID-19 gehabt hätten. Der Verlust betrug also etwas weniger als ein Jahr von Tausend. Für andere europäische Länder wäre der Verlust sogar noch geringer.“
„Wir haben die Mortalitätsdaten für 2021 nicht analysiert, aber ich weiß, dass die Situation in einigen Ländern schlechter war als 2020, in anderen besser. Ich nehme also an, dass wir im Durchschnitt ein weiteres Jahr von 1000 verloren haben. Im Jahr 2022 war die Lage weniger dramatisch, so dass wir nach einer groben Schätzung im Zeitraum 2020 bis 2022 etwa 2 von 1000 Jahren verloren haben, zumindest in einigen Ländern wie Bulgarien. Um zu unserer Geldanalogie zurückzukehren, wäre das so, als ob wir 0,2 Prozent unserer Ersparnisse infolge einer Wirtschaftskrise verloren hätten.“
„Wir können es den Menschen überlassen, zu beurteilen, ob ein solcher Verlust erheblich ist oder nicht. Wenn es nicht so dramatisch erscheint, wäre es eine gute Nachricht nach all den strengen Maßnahmen, die gegen COVID-19 ergriffen wurden. Niemand weiß, wie hoch die Verluste gewesen wären, wenn diese Maßnahmen nicht ergriffen worden wären.“
Kommissarische Leiterin der Abteilung Epidemiologie, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI), Braunschweig
Zur Studie
„Das Papier schätzt durch die Zusammenführung von Daten zu Sterbefällen und Vorerkrankungen aus insgesamt 18 europäischen Ländern: Über 50 Prozent der verlorenen Lebensjahre wären vermutlich ohne Einschränkung gelebt worden.“
Einordnung der Methodik
„Grundsätzlich ist die Methodik aus meiner Sicht geeignet. Ich hätte mir gewünscht, dass insbesondere todesursachenspezifische Daten über die Frage ‚COVID-19-assoziiert oder nicht-assoziiert?‘ noch deutlicher miteinbezogen worden wären.“
nicht-COVID-19-assoziierte PYLL und Effekte von Pandemiemaßnahmen
„Aus meiner Sicht lässt sich aus diesem Papier noch nicht lesen, wie die nicht-COVID-19-assoziierten PYLL erklärt sind. Hierzu hätten tatsächlich todesursachenspezifische Daten – die durchaus vorhanden, aber natürlich für 18 Länder schwer zusammenzutragen sind – aus den entsprechenden Ländern genauer analysiert werden müssen. Damit hätten beispielsweise auch kardiovaskuläre Mortalität in Folge von SARS-CoV-2-Infektionen besser identifiziert werden können. Natürlich können grundsätzlich Pandemiemaßnahmen sowohl für die zeitweilige Untersterblichkeit in bestimmten Altersgruppen und zu bestimmten Zeitperioden als auch für die Übersterblichkeit durch nicht wahrgenommene Vorsorge oder Versorgung verantwortlich sein.“
Auf die Frage, weshalb indirekte PYLL noch anstiegen, nachdem die Impfungen eingeführt wurden:
„Ein Anstieg insbesondere von PYLL, die eher nicht direkt COVID-19-assoziiert sind, ist nach Impfeinführungen natürlich sehr gut möglich, da ein Teil der durch Pandemiemaßnahmen verursachten Versorgungseffekte erst mit Verzögerung auftreten.“
Unterschiede zwischen den untersuchten Ländern
„Die PYLL per capita ist in den 18 Ländern deutlich unterschiedlich: zwischen 20 and 109 pro 1000 Personen. Die Autor:innen selbst zeigen, dass dies mit dem GDP (gross domestic product, Bruttoinlandsprodukt; Anm. d. Red.) und auch mit der Gesamtlebenserwartung korreliert und insbesondere der Anteil der einschränkungsfrei gelebten PYLL in Ländern mit niedrigem GDP zunimmt. Natürlich wird ein Teil der Unterschiede auch durch unterschiedliche Maßnahmen oder durch unterschiedliche Verläufe der Pandemie erklärbar sein.“
Mehrwert der Studie für zukünftige Pandemien
„Um solche Analysen tatsächlich in weitgehender Echtzeit und damit auch mit der Möglichkeit zum Einfluss auf Entscheidungen durchzuführen, bräuchte es nationale todesursachenspezifische Mortalitätsregister mit direkter Verlinkung zum Surveillancesystem.“
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Population Health Lab, Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock
Zur Studie
„Eine Schwierigkeit bei der Berechnung der durch COVID-19 verlorenen Lebensjahre ist, dass Menschen mit schweren Begleiterkrankungen oder hohem Pflegegrad überproportional häufig an COVID-19 sterben. Wird dieser Umstand nicht berücksichtigt, kommt es zu einer Überschätzung der durch COVID-19 verlorenen Lebensjahre. Die vorliegende Studie integriert zusätzliche Informationen zum Gesundheitszustand der Bevölkerung, um eine präzisere Schätzung der verlorenen Lebensjahre vorzunehmen und um zu berechnen, wie viele der durch COVID-19 verlorenen Lebensjahre in guter Gesundheit hätten verbracht werden können.“
Einschätzung der Methodik
„Die Autoren verwenden eine fortgeschrittene und angemessene Methodologie zur Quantifizierung der verlorenen Lebensjahre. Die gewählte Methode ist komplexer und basiert auf realistischeren Annahmen als vergleichbare Modelle der WHO oder der ‚Global Burden of Disease Study‘ und führt daher zu anderen Schätzungen. Ein Nachteil ist der erhöhte Datenbedarf der gewählten Methode, weshalb in der vorliegenden Studie nur europäische Länder mit vergleichbar guter Datenlage vertreten sind.“
„Eine Limitation der Studie ist, dass die COVID-19-Todesfälle von Menschen mit Begleiterkrankungen und Behinderungen geschätzt, und nicht beobachtet wurden. Ich erwarte, dass sich die vorliegenden Schätzungen noch einmal verändern werden, wenn genauere Todesfallzahlen vorliegen.“
nicht-COVID-19-assoziierte PYLL und Effekte von Pandemiemaßnahmen
„Die Pandemiemaßnahmen haben nicht nur die Ausbreitung von COVID-19 gebremst, sondern auch die Ausbreitung der saisonalen Grippe, besonders im Winter 20/21. Mit der Rückkehr der Influenza in den Wintern 21/22 und 22/23 gab es dann – zusätzlich zu COVID-19 – eine influenzabedingte Übersterblichkeit. Dies lässt sich besonders klar für Österreich, Deutschland, die Schweiz, Belgien, und die Niederlande feststellen. In manchen Regionen – Schottland zum Beispiel – gab es eine Zunahme an alkohol- und drogenbedingter Übersterblichkeit während der COVID-19-Pandemie.“
„Unterschiedliche Standards in der Kategorisierung von Todesfällen können auch einen Einfluss auf den Anteil der COVID-19-bedingten Übersterblichkeit haben.“
COVID-19-assoziierte PYLL
„Die COVID-19-bedingte Übersterblichkeit in einem Land lässt sich grob durch zwei Faktoren erklären: die Anzahl der Ansteckungen und das Risiko, nach Ansteckung zu sterben. Die Impfung hat das Risiko, an COVID-19 zu sterben für jeden einzelnen Geimpften zuverlässig und deutlich gesenkt, sie vermochte es aber nicht, die Ausbreitung der Pandemie zu stoppen. In den Jahren 2021 und besonders 2022 haben sich mehr Menschen mit COVID-19 angesteckt als noch im ersten Jahr der Pandemie. In der Konsequenz gab es in der Bevölkerung in manchen Ländern, darunter Deutschland, 2021 eine höhere Übersterblichkeit als 2020. Die Gründe für die höheren Infektionsraten in den Jahren 2021 und 2022 sind die Mutation des Virus zu ansteckenderen Varianten, und, besonders für das Jahr 2022, das Wegfallen von infektionsbegrenzenden Maßnahmen in der Bevölkerung.“
„Es bestehen keine Interessenkonflikte.“
„Ich habe hier keine Interessenkonflikte.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte und habe auch mit keinem der Studienautoren zusammen gearbeitet. “
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Ahmadi-Abhari S et al. (2025): Direct and indirect impacts of the COVID-19 pandemic on life expectancy and person-years of life lost with and without disability: A systematic analysis for 18 European countries, 2020–2022. PLOS Medicine. DOI: 10.1371/journal.pmed.1004541.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Rousson V et al. (2022): On the impacts of the COVID-19 pandemic on mortality: Lost years or lost days?. Frontiers in Public Health. DOI: 10.3389/fpubh.2022.1015501.
[2] Rousson V et al. (2024): Years of Life Lost to COVID-19 and Related Mortality Indicators: An Illustration in 30 Countries. Biometrical Journal. DOI: 10.1002/bimj.202300386.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Science Media Center (2018): Verlorene Lebenszeit als Maßeinheit für Gesundheit – vorzeitige Todesfälle, verlorene Lebensjahre oder doch etwas anderes?. Fact Sheet. Stand: 08.03.2018.
[II] Chen Z et al. (2024): COVID-19 pandemic interventions reshaped the global dispersal of seasonal influenza viruses. Science. DOI: 10.1126/science.adq3003.
Prof. Dr. Ralf Reintjes
Professor für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW)
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Es bestehen keine Interessenkonflikte.“
Prof. Dr. Valentin Rousson
Associate Professor, Abteilung für Biostatistik, Zentrum für Primärversorgung und Public Health (Unisanté), Université de Lausanne, Schweiz
Dr. Berit Lange
Kommissarische Leiterin der Abteilung Epidemiologie, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI), Braunschweig
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe hier keine Interessenkonflikte.“
Jonas Schöley Ph.D.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Population Health Lab, Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe keine Interessenkonflikte und habe auch mit keinem der Studienautoren zusammen gearbeitet. “