Behandlung der Querschnittlähmung mit Nogo-A-Antikörpern
erste größere klinische Studie im Bereich der Forschung zur Querschnittlähmung, auch deutsche Beteiligung
Antikörper zur Regeneration von Nervenfasern nicht klinisch wirksam
Experten betonen Relevanz und Qualität der Studie und sehen den Antikörper trotzdem als Kandidaten für weitere Studien
Ein Antikörper gegen das Protein Nogo-A ist bei Querschnittlähmung nicht klinisch wirksam. Das ist das Hauptergebnis einer ersten größeren klinischen Studie in diesem Forschungsfeld, deren Ergebnisse im Fachjournal „The Lancet Neurology“ erschienen sind (siehe Primärquelle). Auch deutsche Forschende waren beteiligt. Trotz dieses scheinbar ernüchternden Ergebnisses sind die detaillierten Erkenntnisse laut Experten von großem Wert.
Professor am Department für Physiotherapie an der Fakultät für Rehabilitationsmedizin und am Neurowissenschaftlichen Institut, University of Alberta, Edmonton, Kanada
Relevanz des Nogo-A-Antikörpers im Forschungsfeld
„Die Nogo-A-Antikörper-Behandlung ist eine der prominentesten experimentellen Behandlungen für Rückenmarkverletzungen. Seit über 20 Jahren wurde diese Behandlung entwickelt und systematisch an verschiedenen Tiermodellen getestet. Diese Arbeiten machten Professor Martin Schwab zu einer der Leitfiguren im Feld der Regenerationsforschung.“
Ergebnisse der Studie
„Die Ergebnisse der Studie sind nicht sonderlich überraschend, da sie im Wesentlichen die Resultate der Tierversuche widerspiegeln. Hier wurden generell nur leichte Verbesserungen bei moderaten Verletzungen beobachtet. Bei sehr schweren Läsionen waren die Effekte meist vernachlässigbar. Dazu kommt, dass bei Verletzungen des Rückenmarks auf Halsniveau oft andere Faktoren – wie der Verlust an essenziellen neuronalen Netzwerken (inklusive Motoneuronen (Nervenzellen, die für Bewegung zuständig sind; Anm. d. Red.)) über mehrere Rückenmarks-Segmente – der limitierende Faktor für eine Erholung sind: Motoneurone für einen Muskel sind in der Regel über 1,5 Segmente verteilt. In Menschen ziehen sich die Verletzungen oftmals über drei Segmente. Diese Nervenzellen sind dann leider zugrunde gegangen und können nicht ersetzt werden. Wenn man nun Regeneration von Nervenfortsätzen fördert, wie in der Anti-Nogo-A-Behandlung, dann könnte die Regeneration zwar perfekt funktionieren, leider haben die regenerierten Nervenfasern dann aber keine Motoneuronen als Ziel mehr, die sie innervieren können. Das limitiert also die Möglichkeiten für eine Erholung und je schwerer die Verletzung, desto weniger Behandlungseffekte sind möglich. Theoretisch gibt es gar keine Verbesserung, wenn alle Motoneurone zerstört sind. Viele Verletzungen auf Halsniveau haben kaum Schaden der Nervenfasern, aber die Nervenzellen sind schwer betroffen. Da kann dann eine regenerationsfördernde Behandlung für Nervenfasern auch nicht viel helfen. In diesem Szenario kann also die Regeneration von Nervenfortsätzen, die von Nogo-A-Antikörpern gefördert wird, keine Wunder bewirken.“
Zukunft der Querschnittlähmungs-Forschung
„Die Erwartungshaltung, dass es in der nahen Zukunft eine ‚Heilung‘ nach Querschnittlähmung geben wird, erscheint im Augenblich eher unwahrscheinlich. Substanzielle Erholung kann wohl nur bei kombinierten Behandlungen erhofft werden und zukünftige Forschung hat damit eine große Herausforderung zu bewältigen. Anti-Nogo-A-Behandlungen werden dabei sicherlich eine Rolle spielen. Es sollten durchaus noch Studien mit Subgruppen durchgeführt werden, um herauszufinden, bei welchen Patienten die Anti-Nogo-A-Behandlung am effektivsten und klinisch sinnvoll ist.“
Weitere fortgeschrittene Forschungsansätze bei Querschnittlähmung
„Im Augenblick ist meines Wissens keine vergleichbare Studie in der Pipeline. Kleinere aktuelle Studien laufen von NervGen in Vancouver [1], und zu RGMa-Antikörpern [2].“
„NervGen hat ein Peptid (PTP-Sigma) entwickelt, das den Rezeptor für Chondroitinsulfat-Proteoglykane blockiert. Diese hemmen auch das Nervenfaser-Wachstum und finden sich auf Astrozyten (Stützzellen der Nervenzellen; Anm. d. Red.) im Narbengewebe und um Nervenzellkörper herum (sogenannte Perineuronal nets). Die Behandlung hat also auch regenerations- und plastizitätsfördernde Effekte.“
„RGMa ist ein anderer Hemmstoff für Nervenfaser-Wachstum. Es gibt viel mehr solcher Hemmstoffe als nur Nogo-A, noch ein Grund warum die Behandlung gegen einen einzelnen Hemmstoff nicht so viel hilft. In der Studie versucht man, RGMa zu neutralisieren; mit ähnlichen Erwartungen und Hoffnungen wie bei der Nogo-A-Behandlung.“
Professor für Neurologie und Neurowissenschaften, Medizinischer Direktor des Belford Center for Spinal Cord Injury und der Scholar of the Chronic Brain Injury Initiative, Ohio State University College of Medicine, Columbus, Vereinigte Staaten
Relevanz des Nogo-A-Antikörpers im Forschungsfeld
„Das Ausschalten von molekularen Stoppschildern, die das Auswachsen von Nervenfasern nach einer Rückenmarkverletzung behindern, ist ein wesentlicher Ansatz, um die Bildung von neuen Nervenverbindungen zu fördern. Nogo-A war das erste als solches charakterisierte molekulare ‚Stoppschild’. Nun – 35 Jahre nach seiner Entdeckung – wurde Nogo-A in der ‚NISCI’-Studie mittels Antikörper blockiert und der Effekt getestet. Es ist eine sehr aufwändige Interventionsstudie und eine der sehr wenigen randomisiert kontrollierten Phase-2-Studien im Feld überhaupt, mit dem Ziel, den neurologischen Funktionsgewinn zu verbessern.“
„Die NISCI-Studie integriert viele relevante Innovationspunkte (Studiendesign, quantitative Bildgebung/MRT), die über die reine Testung von Nogo-A-Antikörpern hinaus gehen. Die NISCI-Studie schafft Grundlagen, um in Zukunft besser und effektiver Interventionen in dieser heterogenen Patientenpopulation testen zu können. Darüber hinaus wurde ein notwendiges Konsortium geschaffen, um eine solche Studie in mehreren Zentren überhaupt durchführen zu können. Ein hoher administrativer und logistischer Aufwand, bei einem ebenso hohen neurobiologischen Schwierigkeitsgrad. Eine integrative Leistung (und das Lebenswerk) von Professor Armin Curt aus Zürich.“
„Zusammengefasst: Diese Studie ist eine der wesentlichen Studien im Feld der Querschnittforschung – unabhängig vom negativen primären Endpunkt. Sie umfasst viele Implikationen und wesentliche Lernkurven.“
Ergebnisse der Studie
„Der Antikörper wurde gut vertragen. Nebenwirkungen wurden im Wesentlichen durch die invasive Verabreichung in den Liquor (Hirnwasser) verursacht.“
„Der primäre Endpunkt – wenn alle Patienten berücksichtigt werden – ist negativ. In den weitergehenden Analysen zeigt sich jedoch, dass die Antworten auf die Antikörpergabe bei motorisch inkomplett querschnittgelähmten Patienten besser sind als bei motorisch kompletten. Letztendlich betrifft das ‚nur‘ eine Subgruppe und die Studie liefert, wie eingangs bereits erwähnt, nur ‚Hinweise‘.“
„Diese Subgruppenanalysen sind jedoch nicht ausreichend statistisch ‚gepowert‘ und somit statistisch nicht vollwertig. Statistisch vollwertig ausgelegt ist die Analyse nur für den primären Endpunkt. Dennoch stellen die Subgruppenanalysen wichtige Befunde dar. Sie können dazu dienen, in zukünftigen Studien durch eine Fokussierung und Eingrenzung auf eine mögliche ‚Respondergruppe‘ die Chancen für einen dann ausreichend gepowerten Wirksamkeitsnachweis zu erhöhen.“
Auf die Frage, ob die Ergebnisse überraschend sind, dass der Nogo-A-Antikörper nicht signifikant wirksam ist:
„Wenn man sich die Dimension und den Schwierigkeitsgrad der Aufgabe ansieht, ist das nüchtern betrachtet eher nicht überraschend – sondern ein erwartbarer Zwischenschritt.“
„Basierend auf den Ergebnissen dieser Studie kann man in Zukunft genauere, zielgerichtete Endpunkte und entsprechende Studiendesigns festlegen, die damit die Chance auf ein statistisch vollwertiges, positives Ergebnis erhöht. Das ist bei anderen Indikationsstellungen nicht ungewöhnlich. Wie zum Beispiel bei der Multiplen Sklerose (MS). Hier können wir die schubförmige MS mittlerweile gut behandeln, die progrediente MS hingegen (noch) nicht. Diese Unterscheidung hat dem Feld erheblich geholfen, voranzukommen. Man beginnt mit dem, was man behandeln kann. Analog hierzu wäre ein möglicher Wirksamkeitsnachweis in der Subgruppe ‚inkomplett rückenmarkverletzter Patienten‘ eine Art Türöffner für das Feld und auch relevant für den Großteil der Patienten. Die Einschränkung wäre, dass eine Wirksamkeit nicht für alle Rückenmarkverletzte erreicht wäre. Dennoch würde die Rückenmarkverletzung von einer nicht kausal behandelbaren zu einer behandelbaren Verletzung werden.“
Methodik und primärer Endpunkt
„Die Studien-Methodik enthält viele Innovationspunkte (etwa das ‚inclusive trial design‘ mittels ‚recursive partitioning‘ (statistische Methode mittels Entscheidungsbaum; Anm. d. Red.)).“
„Zum primären Endpunkt: Wichtig ist, dass in einer Studie mit subakuten rückenmarkverletzten Patienten nicht beliebig hohe Patientenzahlen eingeschlossen werden können. Der Aufwand, passende Patienten zu finden, ist erheblich: Um 129 Patienten über drei Jahre einzuschließen, mussten 463 Patienten von 13 Zentren gescreent werden.“
„Das Studiendesign und damit der primäre Endpunkt wurden sorgfältig und basierend auf einer großen Anzahl von Patientennormalverläufen geplant. Jedoch war der primäre Endpunkt dennoch negativ. Das liegt aber in der Natur der Sache und ist kein ‚Versäumnis‘: Hätte man vorab die Studie für die Subgruppen komplett und inkomplette Querschnittlähmung designt, wäre die benötigte Fallzahl erheblich höher und die Studie somit nicht mehr machbar gewesen.“
„Die nun vorliegenden MRT-Analysen zeigen, dass die Dimension von Gewebebrücken, die an der Verletzungsstelle im Rückenmark verbleiben, mitentscheidend ist, um eine erwünschte Therapieantwort zu ermöglichen. In dieser Gewebebrücke können dann neue Nervenverbindungen entstehen, die besonders bedeutsam für den Funktionsgewinn sind. Damit kann die Methodik der NISCI-Studie die Methodik zukünftiger Studien verbessern, um auch geringere Effekte aufzuspüren und mit weniger Patienten auskommen zu können.“
Zukunft der Querschnittlähmungs-Forschung
Auf die Frage, ob man weiterhin den Nogo-A-Antkörper erforschen oder sich lieber auf andere Ansätze konzentrieren sollte:
„Ich denke, es ist kein entweder oder. Eine Fokussierung auf möglicherweise bessere Respondergruppen (inkomplette Rückenmarkverletzung) in einer prospektiv, sauber geplanten Nogo-A-Follow-up-Studie ist sinnvoll. Dennoch sollte man auch andere Ansätze ebenfalls und parallel hierzu weiterentwickeln und prüfen.“
Weitere fortgeschrittene Forschungsansätze bei Querschnittlähmung
„Ein weiterer Versuch, um mittels molekularer Schalter ein Wiederauswachsen von verletzten Nervenfasern zu erzielen, findet in den Vereinigten Staaten in Chicago statt. In einer ersten Safety-Studie wird das Protein NVG 291 in tetraparetischen Patienten getestet [1].“
„Darüber hinaus gibt es derzeit Studien, die auf die verbesserte Akutbehandlung abzielen. Genauer gesagt geht um aggressivere chirurgische Verfahren, um das nach einer Verletzung geschwollene und durch seine Umgebung (harte Hirnhaut/Dura) strangulierte Rückenmark zu entlasten und zu ‚befreien‘. Hier gilt ‚time is spine‘. Eine wichtige europäische Studie ist der DISCUS-Trial (Duroplasty for the injured cervical spinal cord with uncontrolled swelling) [3].”
Unterscheidung komplette und inkomplette Querschnittlähmung
„Genau genommen sind inkomplette und komplette Rückmarkverletzungen neurobiologisch substanziell unterschiedlich, also zwei Paar Schuhe. Bei inkompletten Verletzungen kann es ausreichend sein, noch vorhandene, aber leicht geschädigte Fasern zu unterstützten und deren Verbindungen untereinander zu fördern. Dies reicht bei einer kompletten Verletzung nicht aus. Hier besteht keine funktionstragende Nervenverbindung mehr. Eine Andockstelle für auswachsende Nervenfasern ist also erst in weiter Ferne.“
„Dennoch ist denkbar, dass, falls eine Therapie für komplett gelähmte Patienten wirksam ist, diese auch für inkomplette Patienten einen Effekt zeigt. Andersherum ist dies unwahrscheinlich.“
„Neben der Reparatur verloren gegangener Nervenverbindungen erscheint es denkbar, dass man perspektivisch komplett gelähmte Patienten wirksamer schützt. So könnte die oben erwähnte DISCUS-Studie gar dazu beitragen, dass weniger Patienten komplett gelähmt verbleiben und damit häufiger ‚lediglich‘ inkomplett gelähmt sind. Das geschieht über einen Schutz von Risikogewebe.“
Professor für Neurochirurgie und beteiligt am Miami Project to Cure Paralysis, The University of Miami Miller School of Medicine, Vereinigte Staaten
Zusammenfassender Kommentar
„Weidner et al. berichten über die Ergebnisse der Phase-2b-NISCSI-Studie, in der intrathekales Anti-Nogo-A bei Rückenmarkverletzungen im Frühstadium getestet und die Wirkung nach sechs Monaten bewertet wurde. Es handelt sich um eine placebokontrollierte, randomisierte Studie, in der die Sicherheit und Wirksamkeit des Anti-Nogo-A-Antikörpers (NG101) bei 129 Menschen mit Rückenmarkverletzungen getestet wurde. Dieser Antikörper ist dafür bekannt, hemmende Moleküle im zentralen Nervensystem zu blockieren, und hat in präklinischen Studien gezeigt, dass er die Neuroplastizität (Anpassung und Veränderung von Nervenzellen; Anm. d. Red.) und Regeneration erhöht. Diese Phase-2-Studie baute auf der vorherigen Phase-1-Studie auf, in der Sicherheit, Wirksamkeit und Pharmakokinetik (Verhalten eines Medikaments im Körper; Anm. d. Red.) untersucht wurden. Der Antikörper wurde sechsmal im Abstand von jeweils fünf Tagen verabreicht. Die Dosierungen waren recht konsistent, wie durch die NG101-Spiegel im Hirnwasser und Serum bestimmt wurde. Die Nachsorge war sehr erfolgreich, aber die Autoren berichten, dass der primäre Endpunkt nicht erreicht wurde. Andererseits wurden bei der Analyse der Probanden mit inkompletten Rückenmarkverletzungen positive Effekte beobachtet. Es wurde über eine korrelierte Erholung des UEMS-Scores (Upper Extremity Measurement Scale, Score zur Beurteilung der Armbewegung; Anm. d. Red.) und des SCIM-Scores (Spinal Cord Independence Measure, Score zur Beurteilung der Unabhängigkeit im Alltag; Anm. d. Red.) berichtet. Darüber hinaus grenzen sowohl der Biomarker Serum-Neurofilament und die im MRT sichtbaren Gewebebrücken die Probanden mit kompletten und inkompletten Verletzungen klar voneinander ab. In der Behandlungsgruppe traten vier lebensbedrohliche schwerwiegende unerwünschte Ereignisse auf, die jedoch nicht mit NG101 in Verbindung gebracht wurden und der hohen Rate unerwünschter Ereignisse in Studien zu akuten Rückenmarksverletzungen entsprechen. Diese Komplikationen standen nicht im Zusammenhang mit dem rückenmarkskanalnahen Ansatz. Es wurde keine Zunahme neuropathischer Schmerzen (Schmerzen in Zusammenhang mit Nervenschäden; Anm. d. Red.) festgestellt und möglicherweise gab es eine Abnahme der Spastik in der NG101-Gruppe. Bemerkenswert ist, dass die Studie einen a-priori-Stratifizierungsansatz (statistische Methode, um Subgruppen zu bilden; Anm. d. Red.) verwendete, der die Effekte aufgrund von Ceiling-Effekten möglicherweise verringert hat. Insgesamt handelt es sich um eine sehr wichtige Studie, die ein spezifisches molekulares Ziel bewertet und gründlich dokumentiert ist.“
Relevanz des Nogo-A-Antikörpers im Forschungsfeld
„Die Relevanz von NG101 ist sehr hoch. Er war einer der ersten Hemmstoffe der Regeneration, die im adulten Nervensystem identifiziert wurden. Diese Entdeckung war entscheidend für das Verständnis der Regulierung von Neuroplastizität und bildete die Grundlage für die Entwicklung mehrerer anderer Medikamente. Die präklinischen Tests von Anti-Nogo-A-Antikörpern waren sehr umfangreich und das Gesamtprogramm legt ein ganzes therapeutisches Paradigma fest.“
Ergebnisse der Studie
„Die Ergebnisse dieser Studie stimmen mit denen anderer klinischer Studien überein, die darauf hindeuten, dass der Anti-Nogo-A-Antikörper- Ansatz zur Genesung – über die Steigerung der Neuroplastizität und Regeneration – besonders wirksam für Personen mit inkompletten Rückenmarkverletzungen ist. Die Hindernisse für eine Genesung bei kompletten Rückenmarkverletzungen sind größer und können alternative Maßnahmen wie zum Beispiel eine Zelltransplantation erforderlich machen.“
Methodik und primärer Endpunkt
„Der primäre Endpunkt, der ‚Upper Extremity Measurement Scale-Score‘, ist wichtig, da man bereits viele Daten im Vergleich darüber hat, wie die erwartete Erholung ohne Therapie aussieht. Obwohl er nicht perfekt ist, korreliert er mit der funktionellen Erholung. Der Nachweis der Wirksamkeit hängt stark von der Standardabweichung ab, die aufgrund der Heterogenität bei Rückenmarkverletzungen und der Erholung in der Regel hoch ist. Dies ist in der Abbildung 6 im Appendix der Studie zu sehen.“
Zukunft der Querschnittlähmungs-Forschung
“Was die Zukunft der Anti-Nogo-A-Therapie betrifft, so sind diese Ergebnisse ermutigend, wenn man die Wirksamkeit alternativer Ansätze bedenkt. Weitere Studien, die sich auf Personen mit inkompletten Verletzungen konzentrieren, könnten die Population der Responder (Gruppe, bei der das Medikament wirksam ist; Anm. d. Red.) besser definieren. Es ist wichtig, diese Studien sukzessive auszubauen, da das Wissen aus jeder klinischen Studie unerlässlich ist, um die nächsten Studien effektiver zu gestalten. Ein einzelner Ansatz wird wahrscheinlich nicht ausreichen, um eine komplette Aufhebung der Lähmung zu erreichen.“
„In Zukunft wird höchstwahrscheinlich eine Kombination von Therapien erforderlich sein, um eine optimale Genesung zu erreichen. Diese Ansätze werden wahrscheinlich auf körperlicher Rehabilitation basieren, um die Neuroplastizität zu fördern. Die Behandlung beginnt mit optimierter Intensivpflege und Neuroprotektion und umfasst dann verschiedene molekulare Therapien sowie Neuromodulation (Veränderung der Nervenstrukturen; Anm. d. Red.). Bei schweren Verletzungen werden Zelltransplantationen verlorene Zellen, einschließlich Nervenzellen, ersetzen.“
Weitere Forschungsansätze bei Querschnittlähmung
„Es wurden viele Ansätze für Rückenmarkverletzungen entwickelt. Sie befassen sich mit wichtigen Themen wie Neuroprotektion (Schutz des Nervengewebes; Anm. d. Red.), verstärkter Neuroplastizität und der Wiederherstellung neuronaler Schaltkreise durch Zelltransplantationen. Darüber hinaus gibt es mehrere auf Neuromodulationsgeräten basierende Therapien, die sowohl bei akuten als auch bei chronischen Rückenmarkverletzungen Verbesserungen erzielen. Diese Neuromodulationsansätze nutzen auch die Neuroplastizität.“
Professor für Neurowissenschaften und Direktor des UCSD Translational Neuroscience Institute, University of California, San Diego (UCSD), Vereinigte Staaten
„Dies war eine außergewöhnlich gut konzipierte klinische Studie, die darauf abzielte, die Wirksamkeit der Behandlung mit Nogo-A-Antikörpern bei Rückenmarkverletzungen zu bewerten. Während der primäre Endpunkt keinen allgemeinen Nutzen der Behandlung mit Nogo-A-Antikörpern in der Gesamtkohorte von Patienten mit Rückenmarkverletzungen zeigt, könnten mögliche Effekte bei Patienten mit inkompletter motorischer Beeinträchtigung – also Patienten, bei denen nur ein Teil des Rückenmarks geschädigt wurde – vorhanden sein. Dies steht im Einklang mit dem Wirkmechanismus vom Nogo-A-Antikörper: Er reduziert die hemmende Wirkung von Myelin auf das Wachstum und die Aussprossung von Nervenfasern und benötigt daher vermutlich intaktes Rückenmarksgewebe, auf das er einwirken kann. Die Ergebnisse dieser Studie werden zwar nicht zu einer behördlichen Zulassung zur Behandlung von Patienten mit inkompletter motorischer Querschnittlähmung mit Nogo-A-Antikörpern führen, sie sprechen jedoch für die Durchführung einer weiteren, ebenso gut konzipierten prospektiven klinischen Studie an Patienten mit inkompletter motorischer Querschnittlähmung.“
„Es bestehen keine Interessenkonflikte.“
„Ich fungiere als wissenschaftlicher Direktor der Stiftung Wings for Life. Wings for Life war einer der Co-Förderer in der Spätphase der Nogo-A/NISCI-Studie. Die Rolle von Wings for Life liegt im Anschieben von Forschung – das impliziert auch mögliche negative Studienoutcomes. Diese Tätigkeit als wissenschaftlicher Direktor beeinträchtigt mein Urteil nicht, sondern sagt eigentlich nur aus, dass ich die Studie gut kenne. Ich war weder an der Planung noch an der Durchführung oder Analyse der NISCI-Studie in irgendeiner Weise beteiligt. Ich selbst bin Co-Autor von Arbeiten zu Nogo-A [4].”
„Ich habe keine Interessenkonflikte, die für diese klinische Studie relevant sind.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Weidner N et al. (2024): Safety and efficacy of intrathecal antibodies to Nogo-A in patients with acute cervical spinal cord injury: a randomised, double-blind, multicentre, placebo-controlled, phase 2b trial. The Lancet Neurology. DOI: 10.1016/S1474-4422(24)00447-2.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] National Library of Medicine: NVG-291 in Spinal Cord Injury Subjects. Webseite.
Webseite, auf welcher aktuelle Informationen zur laufenden klinischen Studie von NervGen zu finden sind.
[2] National Library of Medicine: Safety And Efficacy Study Of Intravenous (IV) Administration Of Elezanumab To Assess Change In Upper Extremity Motor Score (UEMS) In Adult Participants With Acute Traumatic Cervical Spinal Cord Injury (SCI) (ELASCI). Webseite.
Webseite, auf welcher aktuelle Informationen zur laufenden klinischen Studie mit RGMa-Antikörpern zu finden sind.
[3] National Library of Medicine: Duroplasty for Injured Cervical Spinal Cord With Uncontrolled Swelling (DISCUS). Webseite.
Webseite, auf welcher aktuelle Informationen zur laufenden klinischen DISCUS-Studie zu finden sind.
[4] Schwaiger C er al. (2023): Dynamic induction of the myelin-associated growth inhibitor Nogo-A in perilesional plasticity regions after human spinal cord injury. Brain Pathology. DOI: 10.1111/bpa.13098.
Prof. Dr. Karim Fouad
Professor am Department für Physiotherapie an der Fakultät für Rehabilitationsmedizin und am Neurowissenschaftlichen Institut, University of Alberta, Edmonton, Kanada
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Es bestehen keine Interessenkonflikte.“
Prof. Dr. Jan Schwab
Professor für Neurologie und Neurowissenschaften, Medizinischer Direktor des Belford Center for Spinal Cord Injury und der Scholar of the Chronic Brain Injury Initiative, Ohio State University College of Medicine, Columbus, Vereinigte Staaten
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich fungiere als wissenschaftlicher Direktor der Stiftung Wings for Life. Wings for Life war einer der Co-Förderer in der Spätphase der Nogo-A/NISCI-Studie. Die Rolle von Wings for Life liegt im Anschieben von Forschung – das impliziert auch mögliche negative Studienoutcomes. Diese Tätigkeit als wissenschaftlicher Direktor beeinträchtigt mein Urteil nicht, sondern sagt eigentlich nur aus, dass ich die Studie gut kenne. Ich war weder an der Planung noch an der Durchführung oder Analyse der NISCI-Studie in irgendeiner Weise beteiligt. Ich selbst bin Co-Autor von Arbeiten zu Nogo-A [4].”
Prof. James David Guest, Ph.D.
Professor für Neurochirurgie und beteiligt am Miami Project to Cure Paralysis, The University of Miami Miller School of Medicine, Vereinigte Staaten
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe keine Interessenkonflikte, die für diese klinische Studie relevant sind.“
Mark H. Tuszynski
Professor für Neurowissenschaften und Direktor des UCSD Translational Neuroscience Institute, University of California, San Diego (UCSD), Vereinigte Staaten