Bundesverfassungsgericht kippt Triage-Regel aus der COVID-19-Pandemie
Triage-Regeln im Infektionsschutzgesetz seien nicht mit dem Grundgesetz vereinbar
damalige Regeln sollten im Krisenfall Menschen mit Behinderungen vor Diskriminierung schützen
Fachleute werten die Entscheidung als Erfolg für Ärztinnen und Ärzte, warnen aber vor einem möglichen gesetzlichen Flickenteppich
Das Bundesverfassungsgericht hat die Triage-Regelungen aus der Corona-Pandemie gekippt. Konkret geht es um das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz − IfSG). Das Verfassungsgericht erklärte die Triage-Regelungen des Gesetzes wegen fehlender Bundeskompetenz für nichtig. Es würde in die Berufsfreiheit der Ärztinnen und Ärzte eingegriffen, die – im Rahmen therapeutischer Verantwortung – auch deren Entscheidung über das „Ob“ und „Wie“ einer Heilbehandlung schütze. Dieser Eingriff sei verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.
Das Gesetz legt fest, dass über eine Zuteilung von Patientinnen und Patienten im Krisenfall einer Pandemie „nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ zu entscheiden ist und ausdrücklich nicht nach Lebenserwartung oder Grad der Gebrechlichkeit.
Leitender Oberarzt und Leiter des ECMO-Zentrums sowie Facharzt für Innere Medizin, Pneumologie und Intensivmedizin, Klinikum Köln-Merheim, und derzeit Mitglied der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung
Klarheit über zukünftige Triage-Kriterien
„Erst einmal stärkt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die ärztliche Berufsfreiheit und Entscheidung. Dies ist ausgesprochen zu begrüßen. Klarheit schafft das Urteil in meinen Augen aber aktuell noch nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat primär festgestellt, dass die Zuständigkeit nicht beim Bund liegt. In der Begründung heißt es: ‚Nach der aktuellen Kompetenzverteilung des Grundgesetzes tragen die Länder maßgeblich die Verantwortung für diskriminierungssensible Allokationsregeln im Sinne reiner Pandemiefolgenregelungen, die auch länderübergreifend tragfähige Entscheidungen ermöglichen müssen.‘ Damit droht uns ein Flickenteppich der Regelungen der 16 Bundesländer, wenn hier keine einheitliche Regelung getroffen wird. Stand heute wären wir damit erstmal auf dem Stand vor der Pandemie.“
Anwendung des Gesetzes
„Zum Glück ist es damals durch das Gesetz nie zu schwierigen Entscheidungen gekommen, unter anderem vor allem auch, weil das Divi-Intensivregister (Register der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin und des Robert Koch-Instituts für die Kapazitäten der Intensivmedizin in deutschen Krankenhäusern; Anm. d. Red.) eine Steuerung der Patienten erlaubt hat, neben den vielen regionalen Steuerungsgremien. Dies ist auch die Hauptnachricht neben der Stärkung der ärztlichen Entscheidungsfreiheit. Ein Real-Time-Kapazitätenregister ist der Schlüssel, um Triage zu verhindern, daher müssen wir es über Europa in Anbetracht möglicher Krisen ausweiten.“
Normen der Triage
„Eine Triage-Situation ist bei Infektionserkrankungen bisher zum Glück nie eingetreten. Aus großen Unfällen und Massenanfällen von Verletzten haben wir aber gelernt, dass es wichtig ist, diejenigen zu retten, die eine realistische Prognose auf Überleben haben. Und davon möglichst viele.“
Optimierung der Regelungen
„Wir müssen das Intensivregister ausbauen und auf Europa ausdehnen. Schlank, aber automatisiert in Real-Time, wie wir es in Köln bereits vollautomatisch etabliert haben.“
Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie, Ruhr-Universität Bochum, und Mitglied der ehemaligen Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung
Klarheit über zukünftige Triage-Kriterien
„Die Entscheidung hat insoweit gar nichts geklärt, weil sie sich inhaltlich mit der Frage nach genauen Triage-Kriterien gar nicht befasst hat.“
„Das Bundesverfassungsgericht hat 2021 eine gesetzliche Regelung zum Schutz behinderter Menschen vor Diskriminierung verlangt. Der Regelungsauftrag besteht weiterhin.“
„Das Bundesverfassungsgericht erkennt an, dass die Triage-Vorgaben des Paragrafen 5c des Infektionsschutzgesetzes die Therapie- und Berufsfreiheit der Ärzte berühren. Ob die darin liegende Einschränkung verfassungsrechtlich zulässig ist, hat es materiell aber nicht geklärt.“
„Der Paragraf 5c des Infektionsschutzgesetzes betraf nur Knappheit aufgrund von übertragbaren Krankheiten. Diese Regelung ist nie zur Anwendung gekommen. Dass das Bundesverfassungsbericht sie nun für nichtig erklärt hat, ändert zunächst einmal gar nichts.“
„Der Entscheid hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf Menschen mit Behinderung. Nur bleibt ihr Anspruch auf gesetzlichen Schutz vor Diskriminierung weiter unerfüllt – wobei sie mit der Regelung des Paragrafen 5c des Infektionsschutzgesetzes ja auch nicht zufrieden waren.“
Ausblick
„Das Ergebnis der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist unglücklich, weil nun ein Flickenteppich der Triage-Vorgaben zu entstehen droht. Die Länder selbst hatten in dem Verfahren von 2021 darauf hingewiesen, dass der Vorteil einer ‚bundesgesetzlichen Regelung‘ die Herstellung von Rechtssicherheit sei. Gleiches wird man von – möglicherweise unterschiedlichen – landesgesetzlichen Regelungen nicht sagen können. Zumal die inhaltlichen Fragen der Triage nach wie vor unklar sind, weil sich das Gericht mit ihnen eben gar nicht beschäftigt hat.“
Direktor der Klinik für Intensivmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
„Ehrlich gesagt haben wir Ärztinnen und Ärzte in diesem Fall nicht mehr mit einem Erfolg der Beschwerde gerechnet. Aber das ist natürlich jetzt ein positives Zeichen für die Notfall- und Intensivmedizin. Zugleich muss man auch sagen: Diese Regelung gilt nur im Rahmen einer Pandemie, also während eines schweren Infektionsnotstandes, bei dem zu wenig Intensivbetten vorhanden sind – und das kommt äußerst selten vor.“
Hintergrund des Gesetzes
„Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), hatte 2021 Empfehlungen herausgegeben, wie in solchen Situationen idealerweise zu handeln ist. Kriterien waren: Was sind es für stationäre Patientinnen und Patienten? Wie ist die Prognose der aktuellen Erkrankung? Was gibt es für Vorerkrankungen? Wie gebrechlich sind sie?“
„Wegen dieser aufgestellten Kriterien gab es dann eine Verfassungsbeschwerde von Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung und der Paragraf 5 wurde im Infektionsschutzgesetz angepasst. Dieser sollte verhindern, dass keine Patientin und kein Patient aufgrund von zum Beispiel Alter oder Gebrechlichkeit benachteiligt werden darf. Zudem sollten wir Ärztinnen und Ärzte die mittel- oder langfristige Lebenserwartung der Patientinnen und Patienten nicht berücksichtigen.“
Problem der Triage-Regelung im Infektionsschutzgesetz
„Das Problem ist nur: Unsere Intensivbetten sind in solchen absoluten Notsituationen begrenzt. Da hilft es nicht weiter, zu sagen: ‚Niemand darf benachteiligt werden.‘ Wir Ärztinnen und Ärzte brauchen dann konkrete Entscheidungskriterien. Die Formulierung im Infektionsschutzgesetz war hier zu unkonkret. Und diese Regelung wurde nun gekippt; ebenso die Regelung zur Ex-Post-Triage (Abbruch einer Behandlung im Rahmen einer Triage; Anm. d. Red.). Hier war es aus meiner Sicht auch nicht sinnvoll zu sagen, dass die Patientinnen und Patienten, die bereits auf der Intensivstation liegen, nicht reevaluiert werden dürfen.“
Anwendung des Gesetzes
„Man muss hier aber auch klar sagen, dass das Gesetz nie zur Anwendung kam. Es trat zu einer Zeit in Kraft, als die kritischste Phase der Pandemie bereits vorbei war. Es war aber natürlich sinnvoll, dass man darüber spricht und diskutiert. Es ist ein sehr schwieriges Thema für alle.“
Realität der Triage-Entscheidungen
„Wenn man ehrlich ist, wird weltweit nach den Kriterien, die auch die DIVI damals aufgestellt hat, entschieden. Und dabei spielt auch das biologische Alter eine Rolle. Wenn ich einen 85-jährigen Patienten habe oder einen 18-Jährigen mit der gleichen Erkrankung und ich habe nur ein Intensivbett, dann muss man sagen – auch wenn das keiner aussprechen möchte –, dass bei gleicher Erkrankungsschwere der 18-Jährige das Bett bekommt. Die Erfolgsaussicht, also die Wahrscheinlichkeit, die aktuelle Erkrankungssituation zu überleben, ist das wichtigste Kriterium für die Priorisierung.“
„Die DIVI hat damals auch das Kriterium der Gebrechlichkeit berücksichtigt. Also wie weit ist, gerade bei älteren Patientinnen und Patienten, die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit reduziert. Aber es gibt natürlich eine Abgrenzung zwischen Behinderung und schwerster Einschränkung. Wenn jemand apathisch im Pflegeheim lebt, ist diese Person natürlich auch beeinträchtigt, jedoch anders, als wenn jemandem der linke Arm amputiert wurde. Beide würde ich bei einer Triage anders berücksichtigen. Das ist aber bislang zum Glück alles Theorie. In Deutschland hatten wir in den vergangenen Jahrzehnten keine Situation, in der es zu einer Triage gekommen ist.“gekommen ist.“
Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU)
Klarheit über zukünftige Triage-Kriterien
„Das Bundesverfassungsgericht hat ‚nur‘ festgestellt, dass die Regelungen des Paragraf 5c in die ärztliche Berufsfreiheit eingreifen und dass der Bund formal keine Gesetzgebungskompetenz hat, in diesen Situationen – pandemiebedingte Ressourcenknappheit – in die ärztliche Berufsfreiheit einzugreifen. Diese Kompetenz hat er durch Artikel 74 des Grundgesetzes Nummer 26 beispielsweise für die Regelung der Verteilung lebenswichtiger Organe im Bereich der Transplantationsmedizin – und hat diese mit dem Transplantationsgesetz auch genutzt. Im Ergebnis bleibt die Frage unbeantwortet, nach welchen inhaltlichen Kriterien knappe Intensivbetten nun im Falle einer Überlastung der Strukturen zugeordnet werden. Es gibt bislang nur die Leitlinie der Fachgesellschaften, die im Frühjahr 2020 erstellt wurde, da es keine anderen Vorgaben für Triage-Entscheidungen in Deutschland gab.“
Anwendung des Gesetzes
„Das Gesetz wurde zu einer Zeit in der Pandemie verabschiedet, als es zum Glück keine Ressourcenknappheit gab, die die Anwendung der Regelung im Paragraf 5c erfordert hätte. Es gab aber von ärztlicher Seite durchaus nachvollziehbare Befürchtungen, dass vergleichbare Knappheitssituationen außerhalb einer Pandemie nach den gleichen Vorgaben zu erfolgen hätten. Dies hätte tatsächlich für die verantwortlichen Ärztinnen und Ärzte zu schwierigen Entscheidungen geführt, da es sich um eine ethisch schlecht begründete und medizinisch widersprüchliche Regelung handelte.“
Sinnvolle Vorgaben und Entscheidungskompetenzen
„Es gibt tatsächlich keine klaren berufsethischen Vorgaben, wie Ärztinnen und Ärzte in Triage-Entscheidungen in der Intensivmedizin entscheiden sollen. Es ist aus meiner Sicht deshalb auch keine gute Lösung, diese Entscheidungen allein der Ärzteschaft zu überlassen. Vielmehr sollte es hier Vorgaben durch den Gesetzgeber geben, wie dies beispielsweise bei der Organtransplantation der Fall ist. Diese Vorgaben sollten die Kriterien und allgemeine Verfahrensgrundsätze formulieren.“
„Die konkrete Ausgestaltung der Kriterien sollte – wie bei der Organverteilung – aber dann der Ärzteschaft überlassen werden. Hier ging der Paragraf 5c zu weit, da er Vorgaben gemacht hat, an welchen Kriterien die Überlebenschancen festzumachen beziehungsweise nicht festzumachen sind – zum Beispiel der Ausschluss der Gebrechlichkeit. Dies sind medizinisch-fachliche Fragen, die den medizinischen Fachgesellschaften beziehungsweise der Ärzteschaft überlassen werden sollten.“
„Bei einer Triage im Falle einer Infektionskrankheit und eingeschränkten Intensivkapazitäten wäre aus medizinethischer Sicht das Vorgehen zu empfehlen, das in der AWMF-Leitlinie 040-013 festgelegt ist.“
Chefärztin der Neurologie, Nordseeklinik Helgoland, und Palliativmedizinerin sowie Trainerin für Ethikberatung im Gesundheitswesen
„Das heutige Urteil bringt für die Kernfrage, nach welchen Kriterien knappe intensivmedizinische Ressourcen verteilt werden sollen und dürfen, keine Klärung. Mit der Zuweisung der Zuständigkeit an die Länder ist nun diese überaus komplexe Fragestellung weitergereicht worden. Ich bin sehr gespannt, wie da eine gute Abstimmung und schließlich Regelung gelingen können.“
„Sehr wichtig ist es, jetzt nochmal zu betonen, dass es allen Beteiligten darum geht, so gut wie möglich vorbereitet zu sein. Niemand möchte derartige Entscheidungen treffen müssen. Die nun in den Medien erneut sehr präsente Diskussion zum Thema Triage sollte auf keinen Fall dazu führen, dass Misstrauen geschürt wird. Ich habe in den vergangenen Jahren zahlreiche, sehr vertrauensvolle, gemeinsame Therapiezielfindungen von (intensiv-)medizinischen Teams und Familien begleiten dürfen. Ich denke, wir sind auf einem sehr guten Weg zu mehr Patientenautonomie und gut begründeter gemeinsamer Entscheidungsfindung. Die wichtige Diskussion über Regelungen in Ausnahmesituationen sollte das Vertrauen in eine gute Regelversorgung nicht gefährden.“
„Ich bin Co-Autorin der klinisch-ethischen S1-Leitlinie zur Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten
Prof. Dr. Christian Karagiannidis
Leitender Oberarzt und Leiter des ECMO-Zentrums sowie Facharzt für Innere Medizin, Pneumologie und Intensivmedizin, Klinikum Köln-Merheim, und derzeit Mitglied der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung
Prof. Dr. Stefan Huster
Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie, Ruhr-Universität Bochum, und Mitglied der ehemaligen Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung
Prof. Dr. Stefan Kluge
Direktor der Klinik für Intensivmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
Prof. Dr. Georg Marckmann
Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU)
PD Dr. Annette Rogge
Chefärztin der Neurologie, Nordseeklinik Helgoland, und Palliativmedizinerin sowie Trainerin für Ethikberatung im Gesundheitswesen
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich bin Co-Autorin der klinisch-ethischen S1-Leitlinie zur Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie.“