Cannabis-Arznei bei chronischen Rückenschmerzen – ein Therapie-Meilenstein?
der Cannabis-Vollspektrum-Extrakt VER-01 könnte eine neue Therapieoption bei chronischen Rückenschmerzen sein
deutscher Hersteller Vertanical spricht von einem Meilenstein der Schmerzmedizin
Forschende äußern Lob, hinterfragen aber auch die konkrete klinische Relevanz
Chronische Rückenschmerzen zählen zu den weltweit häufigsten Ursachen für Arbeitsausfall und schränken die Lebensqualität stark ein. Bisher verfügbare Medikamente wie nichtsteroidale Antirheumatika oder Opioide sind für die Langzeitbehandlung nur eingeschränkt geeignet. Ein Forschungsteam um Matthias Karst von der Medizinischen Hochschule Hannover hat nun in einer placebokontrollierten Phase-III-Studie den Cannabisextrakt VER-01 für die Schmerzbehandlung untersucht. Die Ergebnisse sind im Fachjournal „Nature Medicine“ (siehe Primärquelle) erschienen.
Für die Studie erhielten 820 Patientinnen und Patienten mit chronischem unspezifischem Kreuzschmerz an 66 Zentren in Deutschland und Österreich entweder VER-01 oder ein Placebo. Nach drei Monaten gaben die Teilnehmenden in der VER-01-Gruppe eine größere Schmerzreduktion an als in der Placebogruppe. Dazu verglichen die Forschenden die Veränderungen auf einer numerischen Schmerzskala (NRS). Diese reicht von 0 (kein Schmerz) bis 10 (stärkster vorstellbarer Schmerz). Nach der Behandlung sank der NRS-Wert in der VER-01-Gruppe in der ersten Phase um durchschnittlich 1,9 Punkte. In der Placebogruppe waren es 1,4 Punkte. Bei mittleren bis starken Rückenschmerzen (5 bis 7 Punkte), bei denen die Ursache bekannt ist, gilt eine Veränderung von zwei Punkten auf der Schmerzskala als klinisch relevant. Bei leichten Schmerzen ist es ein Punkt [I].
Leiterin der universitären Schmerzmedizin und der Arbeitsgruppe Klinische Neurowissenschaften und Translationale Schmerzforschung sowie Professur für klinische Neurowissenschaften, Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Essen
Schmerzlinderung im Vergleich zum Placebo
„Zumindest in Deutschland ist ja die Verordnung von Cannabispräparaten ein ziemlicher Dschungel: Nur für einen Bruchteil der Präparate, die verordnet werden können, bestehen eigenständige und indikationsspezifische Wirksamkeitsnachweise. Aus dieser Perspektive ist es sehr begrüßenswert, dass sich hier ein Präparat einem doppel-verblindeten Vergleich gegen Placebo in einer großen multizentrischen Studie stellt. Die Studie ist mit über 800 Patientinnen und Patienten ausreichend gepowert, um auch kleine Effekte detektieren zu können.“
„Die Autoren berichten statistisch signifikante Effekte auf das primäre Outcome (die Veränderung der Schmerzintensität auf einer NRS-Skala von 0 bis 10) sowie verschiedene sekundäre Endpunkte wie Schlafqualität, ,Global Impression of Change‘, und weitere). Hierbei ist allerdings kritisch anzumerken, dass eine statistische Signifikanz nicht mit klinischer Relevanz gleichzusetzen ist. Umso größer die untersuchte Gruppe ist, umso kleinere Unterschiede zwischen den Behandlungsgruppen können eine statistische Signifikanz erreichen. In Bezug auf das primäre Outcome betrug dieser Unterschied nur 0,5 Punkte auf einer Skala von 0 bis 10. Ein solcher Unterschied wird allerdings entsprechend internationaler Konsensusgruppen nicht als klinisch relevant betrachtet [1].“
Weitere Forschung
„Natürlich verbergen sich hinter solchen geringen Unterschieden im Mittelwertvergleich auch Patienten, die individuell deutlich stärkere Verbesserungen unter dem Prüfpräparat erleben. Hier werden Subgruppenanalysen interessant, denn erste Signale aus der Studie weisen bereits darauf hin, dass Patienten mit einer größeren neuropathischen Schmerzkomponente gegebenenfalls besser von der Substanz profitieren. Das müsste aber in zusätzlichen prospektiven Studien validiert werden.“
Nebenwirkungen von VER-01
„Im Gegensatz dazu sind die unerwünschten Wirkungen der Prüfsubstanz durchaus klinisch relevant. Mit 17,3 Prozent hat fast jeder Fünfte die Therapie mit der Prüfsubstanz aufgrund von Nebenwirkungen abgebrochen, im Vergleich zu nur 3,5 Prozent in der Placebogruppe.“
Erwartungseffekte
„Aus meiner Sicht verdeutlicht die Studie auch abermals den starken Einfluss von Erwartungseffekten auf die Wirksamkeit von pharmakologischen Therapien. Denn in der Studienphase, in der die Prüfsubstanz nicht mehr doppelblind, sondern offen gegeben wurde, war die Schmerzlinderung deutlich stärker ausgeprägt. In der Medikamentenentwicklung sollten das Zusammenspiel aus diesen Effekten eine viel größere Bedeutung finden, da sich der Benefit für Patientinnen und Patienten in der klinischen Routine immer aus diesen beiden Komponenten zusammensetzt. Daher ist in der aktuellen Studie kritisch zu betrachten, dass beispielsweise Vorerfahrungen mit Cannabispräparaten und auch eine suffiziente Verblindung nicht systematisch erfasst wurden.“
Fazit
„Die Studie ist definitiv ein Schritt in die richtige Richtung, einen Paradigmenwechsel in der Behandlung von chronischen Rückenschmerzen leitet sie aus meiner Sicht aber nicht ein.“
Professorin für Psychologie und Hirnforschung sowie Leiterin des Pain and Addiction Lab, Indiana University Bloomington
Schmerzlinderung im Vergleich zum Placebo
„Die Studie dokumentiert eine statistisch signifikante Schmerzreduktion mit VER-01 auf der Grundlage der numerischen Schmerzintensitätsskala. Die therapeutischen Wirkungen wurden während der gesamten zwölfwöchigen Behandlungsdauer (nach anfänglicher Dosistitration) in der randomisierten, doppelblinden Placebo-Kontrollphase (Phase A) der Studie beobachtet, und die Wirkungen hielten während der offenen Verlängerungsphase (Phase B) an, in der beide Gruppen auf VER-01 umgestellt wurden. Es handelt sich um eine groß angelegte multizentrische Studie mit etwa 400 Probanden pro Erkrankung in der doppelblinden, placebokontrollierten Phase der Studie, was die klinische Relevanz unterstreicht. Die Anzahl der Patienten, die mit VER-01 behandelt werden müssen, um einen allgemein anerkannten Schwellenwert für die Schmerzreduktion (mehr als 30 Prozent) zu erreichen, ist geringer als die für Opioide bei chronischen Rückenschmerzen angegebene Anzahl. Darüber hinaus benötigten die Teilnehmer der VER-01-Gruppe weniger Notfallmedikamente als die Teilnehmer der Placebogruppe. Angesichts des großen Teils der Weltbevölkerung, der unter chronischen Rückenschmerzen leidet, ohne dass eine angemessene Linderung erreicht wird, sind diese Beobachtungen klinisch relevant. Viele frühe Studien zu Breitband-Cannabisextrakten wurden von akademischen Forschern mit begrenzten Ressourcen unter sehr schwierigen Bedingungen durchgeführt, unter denen nur sehr wenige Probanden getestet werden konnten. Schlussfolgerungen, die auf kleinen Stichprobengrößen mit potenziellen Bedenken hinsichtlich der Verblindung basieren, können die Interpretation der Wirksamkeitsnachweise einschränken.“
Schlafqualität
„Die Verbesserung der Schlafqualität ist besonders bemerkenswert, da dies wahrscheinlich die Wirksamkeit der Schmerzlinderung sowie die Wahrnehmung der Lebensqualität durch die Teilnehmer verbessert.“
Vergleich zu anderen Schmerzmitteln
„Die Toleranz und das Suchtpotenzial von Opioiden sind beträchtlich, und Opioide können auch andere unerwünschte Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen und Verstopfung hervorrufen. Ich würde erwarten, dass das Potenzial für Atemdepressionen bei Opioiden viel höher ist als bei VER-01, aber aufgrund der präklinischen Daten für THC nicht unerheblich. Die Bewertung der Langzeitsicherheit würde weiterhin eine Überwachung durch einen Arzt erfordern, und es wäre notwendig, schädliche Wechselwirkungen zwischen Medikamenten und die Abzweigung für nichtmedizinische Zwecke zu vermeiden.“
Nebenwirkungen von VER-01
„Die hier berichteten Nebenwirkungen entsprechen meinen Erwartungen bei einem Breitspektrum-Cannabisextrakt. Wichtig ist, dass das Studiendesign eine Dosistitration vorsah, bei der die meisten unerwünschten Ereignisse beobachtet wurden und die Dosen individuell angepasst werden konnten. Ich glaube, dass dies dazu beigetragen hat, die Nebenwirkungen zu begrenzen und die Verträglichkeit von VER-01 zu verbessern. Die Autoren der Studie kommen zu dem Schluss, dass Ärzte ihre Patienten frühzeitig über mögliche Nebenwirkungen wie Schwindel, Schläfrigkeit und Übelkeit aufklären sollten. Die Tatsache, dass die Teilnehmer morgens und vor dem Schlafengehen unterschiedliche Dosen einnehmen konnten, ermöglicht wiederum eine Titration pro Proband und könnte zu den berichteten Verbesserungen des Schlafes beigetragen haben. Ich gehe davon aus, dass diese Eigenschaft dazu beigetragen hat, die Nebenwirkungen zu begrenzen und eine langfristige Wirksamkeit ohne Anzeichen von Toleranz oder schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen zu ermöglichen. Die berichteten Nebenwirkungen waren leicht bis mittelschwer, und die schweren unerwünschten Ereignisse unterschieden sich nicht von denen der Placebo-Gruppe. VER-01 wäre jedoch für bestimmte Bevölkerungsgruppen (Jugendliche, Schwangere) weiterhin kontraindiziert.“
Studiendesign
„Es ist spannend, die Ergebnisse dieser groß angelegten, multizentrischen Studie mit einer umfassenden Langzeitbewertung der Wirksamkeit und Nebenwirkungen bei einer Patientengruppe mit chronischen Rückenschmerzen zu sehen, einer Indikation, für die ein erheblicher ungedeckter therapeutischer Bedarf besteht. Die sorgfältige Dosistitration hat wahrscheinlich das Potenzial für die Beobachtung der therapeutischen Wirksamkeit optimiert und gleichzeitig unerwünschte Ereignisse minimiert. Die Probanden in der doppelblinden, placebokontrollierten Phase wurden in eine offene Verlängerungsphase überführt, in der die fortgesetzten Probanden VER-01 erhielten. VER-01 schien bei den Respondern langfristig recht gut verträglich zu sein, wobei nur minimale bis moderate unerwünschte Ereignisse berichtet wurden. Natürlich war es weniger wahrscheinlich, dass Non-Responder oder Teilnehmer mit signifikanten Nebenwirkungen/unerwünschten Ereignissen in die offene Verlängerungsphase (Phase B) vorrückten und anschließend nicht in die sechsmonatige Fortsetzungsphase (Phase C) oder die randomisierte Entzugsphase (Phase D) der Studie eintraten. Die Schlussfolgerungen zur Wirksamkeit von VER-01 werden auch durch den randomisierten Entzugsteil der Studie gestützt, der einen Wirksamkeitsverlust in der Auswaschphase nachweist.“
„Was die Einschränkungen betrifft, so ist nicht klar, ob die Probanden bereits Erfahrungen mit Cannabis hatten oder ob die Teilnehmer während der doppelblinden, placebokontrollierten Phase A über die Behandlungsbedingungen informiert waren. Dies ist jedoch nur ein Teil der Komplexität, die mit der Untersuchung von Breitspektrum-Cannabisextrakten verbunden ist.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
„Ich habe keine wesentlichen Interessenkonflikte (oder solche, die für die Studie relevant sind).“
Primärquelle
Karst M et al. (2025): Full-spectrum extract from Cannabis sativa DKJ127 for chronic low back pain: a phase 3 randomized placebo-controlled trial. Nature Medicine. DOI: 10.1038/s41591-025-03977-0.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Dworkin RH (2008): Interpreting the Clinical Importance of Treatment Outcomes in Chronic Pain Clinical Trials: IMMPACT Recommendations. The Journal of Pain. DOI: 10.1016/j.jpain.2007.09.005.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Haase I et al. (2022): Klinische Bedeutung von Veränderungen der Schmerzstärke bei Patienten mit spezifischen Rückenschmerzen. Zeitschrift für Orthopädie und Unfallchirurgie. DOI: 10.1055/a-1304-3677.
[II] Stockings E et al. (2018): Cannabis and cannabinoids for the treatment of people with chronic noncancer pain conditions: a systematic review and meta-analysis of controlled and observational studies. Pain. DOI: 10.1097/j.pain.0000000000001293.
[III] Mücke M et al. (2018): Cannabis‐based medicines for chronic neuropathic pain in adults. Cochrane Review. DOI: 10.1002/14651858.CD012182.pub2.
[IV] Aviram J et al. (2017): Efficacy of Cannabis-Based Medicines for Pain Management: A Systematic Review and MetaAnalysis of Randomized Controlled Trials. Pain Physician. DOI: 10.36076/ppj.20.5.E755.
Prof. Dr. Ulrike Bingel
Leiterin der universitären Schmerzmedizin und der Arbeitsgruppe Klinische Neurowissenschaften und Translationale Schmerzforschung sowie Professur für klinische Neurowissenschaften, Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Essen
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
Prof. Dr. Andrea Hohmann
Professorin für Psychologie und Hirnforschung sowie Leiterin des Pain and Addiction Lab, Indiana University Bloomington
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe keine wesentlichen Interessenkonflikte (oder solche, die für die Studie relevant sind).“