Effekt von COVID-19-Lockdown auf die Gehirnentwicklung bei Kindern
Studiendaten zeigen, dass die Gehirnrinde von Jugendlichen in den Pandemiejahren untypisch schnell gereift ist
diese Veränderungen könnten auf Stress zurückzuführen und irreversibel sein
unabhängige Forschende halten die Daten nicht für überzeugend und widersprüchlich zu vorangegangener Forschung
Im Nachgang der COVID-19-Pandemie wurde ein Anstieg von psychischen Erkrankungen in der Bevölkerung beobachtet, die unter anderem auf die Lockdown-Maßnahmen zurückzuführen sind. Besonders stark waren und sind Jugendliche betroffen, da die Lockdowns für sie in eine Zeit intensiver Persönlichkeits- und Gehirnentwicklung fielen. Eine Studie im Fachjournal „PNAS“ zeigt nun, dass sich die Gehirnrinde von Kindern und Jugendlichen während der Pandemiezeit ungewöhnlich schnell entwickelte und dünner wurde, als es in dieser Entwicklungsphase üblich sei. Der psychische Stress während der Lockdown-Perioden könnte den Autorinnen und Autoren zufolge dafür die Ursache sein, heißt es in der Studie (siehe Primärquelle).
Professorin für Neurowissenschaften am Stanson Toshok Center for Brain Function and Repair, Rosalind Franklin University, Nord-Chicago, Illinois, Vereinigte Staaten
„Die Studie ist sicherlich interessant und ergibt Sinn: Die psychische Gesundheit von Mädchen wurde durch die COVID-19-Lockdowns stärker beeinträchtigt, und dementsprechend veränderte sich auch ihr Gehirn stärker. Aber die Studie ist auch provokativ in der Annahme, dass die Gehirne von Mädchen im Teenageralter irgendwie anfälliger sind als die von Jungen. Darüber hinaus stimmen die Daten nicht gut mit früheren Erkenntnissen zu diesem Thema überein. Die Studie selbst ist recht klein und bringt die Veränderungen im Gehirn nicht mit einer Verschlechterung der psychischen Gesundheit der gleichen Teilnehmer in Verbindung. Ich halte sie also nicht für sehr aussagekräftig.“
„Es sei darauf hingewiesen, dass PNAS zwar als hochrangig gilt, aber viele Wissenschaftler davon überzeugt sind, dass dort Arbeiten von Mitgliedern der Nationalen Akademie veröffentlicht werden, die von höherrangigen Zeitschriften nicht angenommen werden könnten.“
Zur Methodik
„Die Stichprobengröße ist angesichts der jüngsten Forderungen nach einer Stichprobengröße von mehr als 1000 Teilnehmern [1] extrem gering, um aussagekräftige Aussagen über Unterschiede zwischen den Gehirnen von Gruppen machen zu können.“
Mehrwert der Studie
“Die Ergebnisse der Studie stimmen nicht mit einer größeren holländischen Studie überein, die Auswirkungen von Lockdown auf mehrere jugendliche Hirnstrukturen, aber keine geschlechtsspezifischen Unterschiede bei diesen Auswirkungen festgestellt hat [2].“
Zum stärkeren Effekt bei Mädchen
„Es ist bekannt, dass bei Mädchen die kortikale Ausdünnung (Verdünnung der Gehirnrinde während der Entwicklung; Anm. d. Red.) etwa ein bis zwei Jahre früher einsetzt als bei Jungen, was mit ihrer früheren pubertären Reifung zusammenhängt. Der Geschlechtsunterschied könnte also eher ein Pubertätseffekt sein als ein Geschlechtsunterschied an sich. Dies wurde als mögliche Erklärung für die stärkere stressbedingte kortikale Ausdünnung bei heranwachsenden Mädchen in Referenz 44 erörtert [3]. Die PNAS-Studie zitiert diese Referenz, ohne jedoch auf die Frage des Pubertätszeitpunkts einzugehen.“
Zum Einfluss von Stress auf die Gehirnrinde
„In Bezug auf den zellulären Mechanismus der kortikalen Ausdünnung stellen die Autoren fest, dass ‚chronischer Stress das Wachstum oder die Schrumpfung von Dendriten in bestimmten Regionen verursachen kann, je nach Geschlecht des Nagers‘ [4]. Laut dieser Referenz sind die tatsächlichen Daten für Nagetiere jedoch gegenteilig: Stress erhöht die Dendriten- und Dornenfortsatzdichte (feine, oft pilzförmige Vorwölbung der Oberfläche einer Nervenzelle; Anm. d. Red.) im präfrontalen Kortex bei Weibchen und verringert sie bei Männchen, also das Gegenteil von dem, was man bei einer größeren kortikalen Ausdünnung bei heranwachsenden Mädchen erwarten würde.“
Leiterin der Otto-Hahn-Forschungsgruppe Kognitive Neurogenetik, Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig, und sowie Leiterin der Forschungsgruppe Kognitive Neurogenetik am Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM) am Forschungszentrum Jülich
Zur Studie
„Grundsätzlich ist die Idee, die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie – beziehungsweise den vermuteten Stress durch die Lockdown-Maßnahmen – zu untersuchen, sehr interessant. Das Ergebnis ist nicht unerwartet, dass die Pandemiezeit und der eventuell dazugekommene Stress einen Effekt hatten, aber die Ergebnisse dieser Studie können nicht wirklich Evidenz liefern. Die Studie lässt viele Fragen offen und kann ihre Aussagen nicht gut belegen.“
Zur Methodik
„Die Methode, ein normatives Modell als Vergleichswerkzeug zu erstellen, ist durchaus geläufig aber keine Standardmethode. Auch werden mir als Leserin die Unsichertheits-Maße nicht klar, die bei einem normativen Model dazugehören, und es ist nicht wirklich klar, ob die Varianz noch immer im ‚Normalbereich‘ liegt.“
„Die ProbandInnenzahl ist sehr klein, vielleicht sogar zu klein, auch bei der Analyse zu Geschlechterunterschieden. Auch finde ich es sehr schade, dass sie das Set-up der Studie – eine Längsschnittstudie – nicht dazu genutzt haben, um Änderungen innerhalb einer Person zu messen, wie Symptome psychischer Erkankungen oder ähnliches. Ich verstehe nicht, warum sie das nicht getan haben. “
„Die kortikale Dicke ist ein anatomisches Maß für das Gehirn, grob ein Maß für die ‚graue Masse an Gehirnzellen und unterstützendes Material‘. Wir wissen, dass diese Dicke sich über die Lebensspanne entwickelt. Es ist also nachvollziehbar, dass sie diesen Parameter untersucht haben. Es ist allerdings noch nicht geklärt, welche biologischen (oder psychologische) Effekte sich anhand der Kortexdicke ablesen lassen, oder warum die Dicke sich ändert.“
„Die AutorInnen haben keine Verhaltensdaten erhoben. Inwiefern die Kortexdicke mit dem Verhalten der Jugendlichen in Verbindung steht oder den Effekten des COVID-19-Lockdowns, wird hier nicht gezeigt.“
Reifung des Kortex
„Während der Entwicklung reift der Kortex. Die Kinder und Jugendlichen in der Studie sind sehr unterschiedlich alt, und dazu kommen noch individuelle Unterschiede in der Reifung. Die Daten lassen keine Rückschlüsse zu, ob die Änderungen in der Kortexdicke wirklich anders sind, als erwartet und ob die Kontrolldaten auf einer ‚normalen‘ Gehirnentwicklung basieren.“
Zum stärkeren Effekt bei Mädchen
„Die gefundenen Geschlechtsunterschiede basieren auf eine sehr geringe Anzahl an ProbandInnen. Es ist unklar, was die Effekte in Bezug auf die Pandemie bedeuten und wie robust diese sind – auch in Bezug auf andere Faktoren, die bei Gehirnentwicklung und eventuellen Geschlechtsunterschieden eine Rolle spielen.“
Langfristige Auswirkung
„Es ist bisher nicht bekannt und sehr spekulativ, ob Einflüsse auf die Gehirnentwicklung von Dauer sind oder wie langfristig sie sich auswirken – und diese Studie hat das, meiner Meinung nach, aufgrund methodischer Limitationen nicht klar zeigen können. Es ist aber möglich, dass drastische Erfahrungen oder Stress, Einfluss auf die Gehirnentwicklung nehmen können und dass diese Veränderungen auch bleiben.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte mit dieser Studie oder ihren Autoren.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Corrigan NM et al. (2024): COVID- 19 lockdown effects on adolescent brain structure suggest accelerated maturation that is more pronounced in females than in males. PNAS. DOI: 0.1073/pnas.2403200121.
Weiterführende Recherchequellen
Science Media Centre UK (2024): expert reaction to study of adolescent brain structure over the COVID-19 pandemic. Stand: 09.09.2024
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Marek S et al. (2022): Reproducible brain-wide association studies require thousands of individuals. Nature. DOI: 10.1038/s41586-022-04492-9.
[2] van Drunen L et al. (2023): Effects of COVID-19 pandemic on structural brain development in early adolescence. Scientific Reports. DOI: 10.1038/s41598-023-32754-7.
[3] Fassett-Carman AN et al. (2023): Major gender differences in relations between life stressor frequency and gray matter in adolescence and emerging adulthood. Developemental Psychology. DOI: 10.1037/dev0001489.
[4] Shansky RM et al. I2021): Considering sex as a biological variable will require a global shift in science culture. Nature Neuroscience. DOI: 10.1038/s41593-021-00806-8.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] van Drunen L et al. (2023): Effects of COVID-19 pandemic on structural brain development in early adolescence. Scientific Reports. DOI: 10.1038/s41598-023-32754-7.
Prof. Lise Eliot
Professorin für Neurowissenschaften am Stanson Toshok Center for Brain Function and Repair, Rosalind Franklin University, Nord-Chicago, Illinois, Vereinigte Staaten
Dr. Sofie Valk
Leiterin der Otto-Hahn-Forschungsgruppe Kognitive Neurogenetik, Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig, und sowie Leiterin der Forschungsgruppe Kognitive Neurogenetik am Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM) am Forschungszentrum Jülich