Eltern-Interventionen gegen Übergewicht bei Säuglingen
Präventionsmaßnahmen gegen Übergewicht bei Kindern bis zu einem Alter von zwölf Monaten in Form von Verhaltensanweisungen an Eltern zeigen keinen Effekt
zunehmendes Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen ist ein globales Problem und frühe Präventionsmaßnamen gelten als essenziell
Forscher ordnen ein, warum derart frühe Interventionen unwirksam sind und fordern einen strukturelleren Ansatz bei der Prävention von Übergewicht
Die Prävention von Übergewicht bei Kindern ist essenziell, um dem zunehmenden globalen Problem Adipositas entgegenzuwirken. Doch einer aktuellen Meta-Analyse zufolge scheinen zu frühe Interventionen keinen Nutzen zu bringen. Die Analyse umfasste insgesamt 17 Studien, in denen die Wirksamkeit von Interventionsprogrammen bei Eltern mit Kindern bis zu einem Alter von zwölf Monaten getestet wurde. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal „The Lancet“ veröffentlicht (siehe Primärquelle).
Laut den aktuellen Leitlinien der deutschen Adipositas Gesellschaft [I] ist das Stillen die optimale Form der Säuglingsernährung. Zudem werden ausreichend körperliche Aktivität und Schlaf sowie Entspannung empfohlen. Hierbei sollte eine Kombination aus Bewegungs-, Ernährungs- und Verhaltenstherapie angewendet werden, in der die Eltern eine Vorbildrolle einnehmen. Die Kinder sollen lernen, was es bedeutet, hungrig oder satt zu sein. In Studien mit Kindern ab zwei Jahren konnten bereits kleine Effekte von Präventionsmaßnahmen auf deren Body-Mass-Index (BMI) Z-Score nachgewiesen werden [II]. Der BMI Z-Score wird hauptsächlich bei Kindern verwendet und gibt Aufschluss darüber, wo sich der BMI eines Kindes im Vergleich zum Durchschnitt der entsprechenden Altersgruppe befindet. Welchen Nutzen spezielle Interventionen für Eltern von Säuglingen haben, hat die vorliegende Meta-Analyse untersucht.
Leiter des Lehrstuhl für Public Health Nutrition, Universität Bayreuth
Qualität und Methodik der Studie
„Die Studie ist methodisch sehr solide und geeignet, aussagekräftige und zuverlässige Ergebnisse zu liefern. Es wurden die Daten der individuellen Teilnehmer von 47 Studien zusammengeführt und nach einem einheitlichen Verfahren ausgewertet. Dabei wurden die aktuellen Goldstandards für gute wissenschaftliche Praxis in diesem Bereich angewandt und großer Wert auf die Qualität der Daten gelegt. Maßnahmen, die in der frühen Kindheit ansetzen, sind grundsätzlich sinnvoll und wichtig, da Einflüsse in diesem Alter langfristig prägende Effekte haben können. Ein längerer Beobachtungszeitraum wäre grundsätzlich wünschenswert, lässt sich in der Praxis aber nur schwer erreichen.“
Einordnung der Ergebnisse
„Es ist tatsächlich überraschend, dass sich keinerlei Effekte gezeigt haben, weder auf das Körpergewicht noch auf das Ess-, Bewegungs- oder Schlafverhalten. Dass Maßnahmen zur Prävention von Adipositas nur kleine Effekte haben, ist nicht ungewöhnlich. Bei Einzelstudien können auch zahlreiche methodische Faktoren dazu führen, dass Effekte nicht sichtbar sind, beziehungsweise nachgewiesen werden können, obwohl die untersuchte Maßnahme wirksam ist. Bei der vorliegenden, sehr sorgfältig durchgeführten Meta-Analyse ist dies jedoch unwahrscheinlich. Es ist daher wahrscheinlich, dass die untersuchten Eltern-Programme tatsächlich nicht wirksam sind. Dies heißt aber nicht, dass alle Maßnahmen zur Prävention von Adipositas im Kleinkindalter wirkungslos sind: Untersucht wurden nur Maßnahmen, bei denen die Wissensvermittlung an die Eltern im Vordergrund steht.“
Erklärungen für fehlende Wirksamkeit
„Für besonders relevant halte ich den folgenden von den Studienautoren angeführten Erklärungsansatz: Die untersuchten Programme verlangen von den teilnehmenden Eltern viel ab und es ist im Stress des Alltags für Eltern von Kleinkindern oft schwierig, Ernährungs- und Bewegungsempfehlungen umzusetzen. Deshalb ist es wichtig, auch an den strukturellen Faktoren anzusetzen, die dazu führen, dass Übergewicht und Adipositas weltweit immer häufiger werden. Wichtig wären zum Beispiel eine strengere Regulierung von Kinderlebensmitteln und an Kinder gerichteter Werbung, mehr Grünflächen, Spiel- und Sportplätze, und ein leichterer Zugang zu gesunden Lebensmitteln, etwa durch eine Mehrwertsteuerbefreiung auf Obst und Gemüse und Qualitätsstandards für die Verpflegung in Kinderkrippen, Kitas und Schulen.“
Situation in Deutschland
„In Deutschland mangelt es insbesondere an den strukturellen Ansätzen, die von den Studienautoren angemahnt werden. Positiv ist in diesem Zusammenhang, dass die Bundesregierung angekündigt hat, eine Milliarde Euro für die Modernisierung von Sportstätten zur Verfügung zu stellen – wobei hier wichtig ist, dass dieses Geld auch im Breitensport ankommt. Daneben wäre auch eine Verbesserung der Kita- und Schulverpflegung dringend nötig, und mehr Bewegung im Schulalltag. Fachorganisationen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfehlen auch eine Steuerbefreiung auf Obst und Gemüse und eine höhere Besteuerung von Softdrinks.“
Stellvertretender Standortdirektor, Deutsches Zentrum für Kinder- und Jugendgesundheit (DZKJ), Standort Ulm, und Leiter der Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie sowie des Endokrinologischen Forschungslabors, Universitätsklinikum Ulm und Koordinator der AWMF S3-Leitlinie „Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes und Jugendalter“
Qualität und Methodik der Studie
„Es handelt sich um eine Sekundäranalyse bereits publizierter Daten nach bestmöglicher Methode. Das Problem bei solchen großen Analysen besteht darin, dass oft wichtige Detailinformationen nicht berücksichtigt werden können.“
Einordnung der Ergebnisse und Erklärungen für fehlende Wirksamkeit
„Das Ergebnis ist aus biologischer Sicht vielleicht erklärbar: Die Entwicklung von Wachstum und Gewicht ist in den ersten zwei Lebensjahren vor allem durch intrauterine Faktoren, also Faktoren der Eltern, vor allem der Mutter und der Schwangerschaft, beeinflusst. Diese sind im ersten Lebensjahr kaum beeinflussbar, da sie aus der Vergangenheit herrühren.“
„Nach dem zweiten Geburtstag sind dann vor allem die kindlichen Faktoren entscheidend, also Faktoren, wie Ernährung, Bewegung und Lebensstil, der durch die Eltern im Wesentlichen beeinflusst werden – und gegebenenfalls modifizierbar sind.“
„Zusätzlich möchte ich anmerken, dass eine Veränderung des Lebensstils und des Verhaltens der Eltern und dadurch eine Wirkung auf die Gewichtsentwicklung der Kinder eher nicht im Rahmen einer Studie zu erreichen ist. Der Lebensstil und das Verhalten wird ja vorwiegend durch den sozioökonomischen Status, die kulturelle Einbettung und die Bildung bestimmt. Dies sind Einflussgrößen, die nicht durch Verhaltensschulungen verändert werden können. Es würde hier einer viel umfangreicheren Veränderung bedürfen.“
Geeignete Interventionen
„Für das Stillen gibt es ja sehr gute Ergebnisse, die zeigen, dass Stillen ohne zufüttern das Wachstum und die Gewichtsentwicklung günstig beeinflussen, allerdings nur bis zum Schulalter, danach verflüchtigt sich dieser Effekt.“
„Für eine frühe Aufklärung und Intervention spricht die Entwicklung des BMI ab dem Alter von zwei Jahren, wobei mit zwei Jahren der BMI ein sehr unzuverlässiges Maß für späteres Übergewicht ist, und erst ab einem Alter von vier Jahren aussagekräftig wird. Die in der Arbeit zitierten Ergebnisse [1] zeigen, dass noch vor der Einschulung der relative BMI der Kinder programmiert wird. Somit könnte die Zeit zwischen zwei und vier Jahren entscheidend für wirksame präventive Interventionen sein. Dies ist allerdings eine Hypothese. Bislang konnte dies noch in keiner Studie gezeigt werden.“
Situation in Deutschland
„Frühe Präventionsprogramme sind in Deutschland nicht flächendeckend vorhanden. Die Gesundheitsuntersuchungen für Kinder und Jugendliche als Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung nach § 26 SGB V sind allerdings Teil von Präventionsmaßnahmen. In der entsprechenden Kinderrichtlinie gibt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) Vorgaben für deren Durchführung. Unter anderem wird hier auch der BMI berechnet und anhand von Referenzwerten bewertet. Es soll damit früh festgestellt werden, ob ein Kind ein Übergewicht entwickelt. Bei Hinweisen darauf, werden Beratungsangebote gemacht, die die Eltern wahrnehmen können.“
„Die positive Botschaft ist: die Schuleingangsuntersuchungen zeigten in Deutschland schon vor einiger Zeit eine Stagnation beziehungsweise sogar einen Rückgang der Prävalenz für Adipositas [2]. Dies ist möglicherweise das Ergebnis nicht eines einzelnen Programms, sondern vielfältiger Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung und bei den jungen Familien gepaart mit den wirksamen Gesundheitsuntersuchungen für Kinder durch die Kinder- und Jugendärzte.“
„Relevante Interessenkonflikte habe ich keine.“
„Ich habe keinen Interessenkonflikt.“
Primärquelle
Hunter KE et al. (2025): Parent-focused behavioural interventions for the prevention of early childhood obesity (TOPCHILD): a systematic review and individual participant data meta-analysis. The Lancet. DOI: 10.1016/S0140-6736(25)01144-4.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Geserick M et al. (2018): Acceleration of BMI in early childhood and risk of sustained obesity. New England Journal of Medicine. DOI: 1056/NEJMoa1803527.
[2] Moss A et al. (2012): Declining prevalence rates for overweight and obesity in German children starting school. European journal of pediatrics. DOI: 10.1007/s0043101115315.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Deutsche Adipositas Gesellschaft (31.08.2019): S3-Leitlinie Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes- und Jugendalter AMWF online.
seit 30.08.2024 abgelaufen, befindet sich derzeit in Überarbeitung
[II] Phillips SM et al. (2025): Interventions to prevent obesity in children aged 2 to 4 years old. Cochrane Database of Systematic Reviews 2025. DOI: 10.1002/14651858.CD015326.pub2.
[III] Deutsche Adipositas Gesellschaft (25.02.2020): Neue S3-Leitlinie zur Prävention und Therapie der Adipositas im Kindes- und Jugendalter. Pressemitteilung.
Prof. Dr. Peter von Philipsborn
Leiter des Lehrstuhl für Public Health Nutrition, Universität Bayreuth
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Relevante Interessenkonflikte habe ich keine.“
Prof. Dr. Martin Wabitsch
Stellvertretender Standortdirektor, Deutsches Zentrum für Kinder- und Jugendgesundheit (DZKJ), Standort Ulm, und Leiter der Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie sowie des Endokrinologischen Forschungslabors, Universitätsklinikum Ulm und Koordinator der AWMF S3-Leitlinie „Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes und Jugendalter“
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe keinen Interessenkonflikt.“