EuGH erlaubt mehr Möglichkeiten zur Vorratsdatenspeicherung
laut neuem EuGH-Urteil kann Vorratsdatenspeicherung (VDS) unter gewissen Umständen zulässig sein, wenn Speicherung keine Schlüsse aufs Privatleben erlaubt
das scheint bisherigen Urteilen des EuGH zu widersprechen
Juristen: tatsächlich Kehrtwende in der EuGH-Rechtsprechung zur VDS, könnte Diskussion in Deutschland neu ankurbeln
Die allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung (VDS) von IP-Adressen kann zulässig sein, wenn diese Speicherung „keine genauen Schlüsse auf das Privatleben der fraglichen Person zulässt“ [I]. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am Dienstag in einem ein Urteil [II] bekanntgegeben. Laut den Richterinnen und Richtern kann das der Fall sein, wenn die erhobenen personenbezogenen Daten in unterschiedliche Kategorien unterteilt sind und getrennt gespeichert werden. Das Urteil folgt auf eine Klage der französischen NGO „La Quadrature du Net“ und drei anderen Bürgerrechtsorganisationen von 2021.
Professor für Recht und Ethik der digitalen Gesellschaft, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
Unterschied zwischen dem aktuellen Urteil und vergangenen EuGH-Urteilen zur VDS
„Das neue Urteil kann man durchaus als kopernikanische Wende des EuGH im Bereich der Datenspeicherung sehen. Anders als bislang wird eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung nicht mehr in allen Konstellationen als schwerer Grundrechtseingriff eingeordnet. Wenn effektiv eine detaillierte Überwachung einzelner ausgeschlossen ist, geht der EuGH nunmehr nur von einem ‚normalen‘ Grundrechtseingriff aus. In der Konsequenz ist die Herausgabe von dadurch gespeicherten IP-Adressen auch bei verhältnismäßig leichten Fällen von Kriminalität, etwa Urheberrechtsverletzungen, möglich. Bislang ging man davon aus, dass dies lediglich bei schwerer Kriminalität, wie Terrorismus, mit den Grundrechten vereinbar ist.“
Auswirkungen des Urteils
„Das Urteil bedeutet, dass unter bestimmten, strengen Voraussetzungen – institutionelle Vorkehrungen zur Verhinderung einer Verknüpfung unterschiedlicher Datenpunkte; regelmäßige Überprüfung der speichernden Behörde durch eine unabhängige Stelle mit Blick auf Datensicherheit und Missbrauch – eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung zu bestimmten Zwecken mit europäischem Recht vereinbar und daher möglich ist. Diese Zwecke sind deutlich weiter gefasst, als man bislang dachte – auch verhältnismäßig geringe Rechtsverletzungen wie Urheberrechts- und Patentverletzungen oder Online-Betrug können nun ausreichen.“
„Dem EuGH ist der Unterschied zu seiner bisherigen Rechtsprechung natürlich nicht entgangen. Die Kehrtwende wird damit gerechtfertigt, dass der EuGH eine Reihe von institutionellen Vorgaben macht, die verhindern sollen, dass eine lückenlose Überwachung des Individuums erfolgt, die tatsächlich einen schweren Grundrechtseingriff darstellen würde. Nur unter diesen Voraussetzungen kann die Vorratsdatenspeicherung dem Verdikt eines schweren Grundrechtseingriffs entgehen. Und nur dann kann sie auch für minderschwere Fälle genutzt werden.“
Weiteres Verfahren in Deutschland nach der Einigung zum Quick-Freeze-Verfahren
„Quick Freeze ist nicht dasselbe wie eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung, da bei Quick Freeze gerade nur aufgrund eines bestimmten Anlasses spezifische Daten ‚eingefroren‘ und länger gespeichert werden. Das EuGH-Urteil zeigt, dass zumindest theoretisch sogar eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung unter strengen Auflagen zu weiteren Zwecken als bislang angenommen möglich ist. Das ginge über Quick Freeze hinaus. Es steht daher zu erwarten, dass die einzelnen Akteure, auch innerhalb der Ampel-Regierung, auf Grundlage des Urteils ihre Positionen noch einmal neu bewerten. Allerdings erwarte ich persönlich keine weiteren Durchbrüche, da sich an der ablehnenden Haltung der FDP vermutlich wenig ändern wird, auch wenn das SPD-geführte Bundesministerium des Inneren möglicherweise eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung zu bestimmten Zwecken auf Grundlage des Urteils gerne umsetzen würde. Aber Quick Freeze bleibt vermutlich der kleinste gemeinsame Nenner.“
Erklärung für die anscheinend unterschiedlichen Rechtsprechungen
„In der Tat waren zum Teil andere Richter beteiligt, insbesondere hat der Berichterstatter gewechselt, vom deutschen Richter von Danwitz (2020) zur tschechischen Kollegin Prechal (2024). Das kann durchaus wichtig sein, weil die Berichterstatter das Urteil maßgeblich inhaltlich vorbereiten. Zudem hat sich seit dem Jahr 2020, als das letzte große Urteil gefällt wurde, viel getan. Vor allem generative KI ist in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt und damit auch die Notwendigkeit eines effektiven Schutzes von Urheberinnen und Urhebern. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Debatte indirekt auch das Verfahren beeinflusst hat.“
„Der EuGH öffnet sich mit dem neuen Urteil noch stärker als bislang einer kontextsensiblen Interpretation des Datenschutzes. Es kommt immer auf die spezifische Konstellation und die darin enthaltenen Schutzvorkehrungen an. Eine solche Ausdifferenzierung der Rechtsprechung ist in gewissem Maße über die Zeit auch natürlich und erwartbar. Das Urteil zeigt, dass auch in der EU Datenschutz richtigerweise kein absolutes Gut ist, sondern immer maßvoll mit anderen Grundrechten abgewogen werden muss.“
„Insgesamt hat der EuGH nunmehr eine pragmatische Differenzierung vorgenommen, die auf dem Papier durchaus überzeugen kann, sich aber insbesondere in Ländern der EU, die erhebliche Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit haben, noch bewähren muss. Insofern bin ich durchaus skeptisch, ob die strengen Maßgaben für die Verhinderung einer massenhaften Überwachung tatsächlich eingehalten werden. Das gilt natürlich auch für Länder wie Deutschland, sofern hier im Zuge politischer oder gesellschaftlicher Prozesse die Rechtsstaatlichkeit in Zukunft erodieren sollte.“
Professor für IT-Sicherheitsrecht, Hochschule Bremen
Unterschied zwischen dem aktuellen Urteil und vergangenen EuGH-Urteilen zur VDS
„Das EuGH-Urteil ist eine deutliche Kehrtwende in der Rechtsprechung des digitalen Grundrechtsschutzes. Wurde im ersten EuGH-Entscheid die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung noch wegen ‚Unverhältnismäßigkeit‘ gekippt, steht das nun nicht mehr zur Debatte.“
„Ganz im Gegenteil, es bahnt sich an, die Vorratsdatenspeicherung mit den Aufweichungen sogar zur Verfolgung von Urheberrechtsverstößen von der Ausnahme zum Regelfall zu machen. Der lange Atem der Politik seit 2006 hat sich ausgezahlt: Man probiert so lange, ein verfassungsrechtlich mehr als fragwürdiges Verfahren politisch durchzusetzen, bis sich die Rechtsprechungslinie der höchsten Gerichte irgendwann ändert. Überdies mutet es geradezu absurd an zu behaupten, durch eine Datentrennung würde es nicht möglich sein, Schlüsse auf das Privatleben zu ziehen – denn genau das ist mit der Auswertung von Vorratsdaten ja auch möglich und beabsichtigt.“
Weiteres Verfahren in Deutschland nach der Einigung zum Quick-Freeze-Verfahren
„Innenministerin Faeser hat durch den EuGH-Entscheid definitiv Aufwind für ihr politisches Vorhaben bekommen, die anlasslose Speicherung von Vorratsdaten flächendeckend in Deutschland umzusetzen, und wird dieses Ziel deshalb auch weiterverfolgen. ‚Quick Freeze‘ war politisch schon seit jeher keine wirklich gangbare Alternative, sondern aus innenpolitischer Sicht für die beteiligten Sicherheitsbehörden nur ein fauler Kompromiss, auf den man sich auch aufgrund der bisherigen europäischen Rechtsprechungslinie zwangsweise einigen musste. Was nun passiert, ist absehbar: Selbst wenn wir mit Quick Freeze unter Berufung auf den digitalen Grundrechtsschutz durch die Koalitionspartner als ‚kleine Lösung‘ beginnen, werden die Anforderungen, ab wann auf Vorratsdaten zugegriffen werden kann, in den Folgejahren sukzessiv abgesenkt werden. Ein gängiger Weg, den wir insbesondere bei den sicherheitsbehördlichen Befugnissen seit 9/11 bereits mehrfach erleben konnten.“
Erklärung für die anscheinend unterschiedlichen Rechtsprechungen
„Die Änderung der Rechtsprechung des EuGH entspricht der aktuellen Linie der EU, die Europäische Union mehr und mehr von einer Freiheitsunion zu einer Sicherheitsunion umzubauen beziehungsweise Freiheit mit Sicherheit gleichzusetzen. Dabei kommt es weniger auf die einzelnen Richter, sondern auf die geänderte Gefahrenlage und neue globale Bedrohungssituation sowie die in den letzten Jahren massiv gestiegene Cyberkriminalität an. Dabei ist es durchaus möglich, dass auch der EuGH seine Rechtsprechungslinie ändert – wenngleich die aktuelle Entscheidung in ihrer Deutlichkeit selbst für Insider überraschend kam.“
Professor für Medienrecht, Technische Universität Dortmund
Unterschied zwischen dem aktuellen Urteil und vergangenen EuGH-Urteilen zur VDS
„Der EuGH macht gewissermaßen eine Kehrtwende: Bislang wurde grundsätzlich jede anlasslose Speicherung von IP-Adressen vor allem zu Zwecken der Strafverfolgung als schwerwiegender Eingriff in Grundrechte angesehen. Deshalb sollte ein Zugriff nur zur Bekämpfung schwerer Straftaten wie der Verbreitung von Kinderpornografie zulässig sein. Jetzt wird bereits die Möglichkeit einer anlasslosen Speicherung von IP-Adressen zur Ahndung von Urheberrechtsverletzungen als prinzipiell zulässig angesehen, da diese nicht zwangsläufig einen schweren Grundrechtseingriff darstelle, heißt es. Notwendig dafür seien allerdings bestimmte Voraussetzungen bei der Datenspeicherung. Es müsse ausgeschlossen werden, dass Behörden exakte Rückschlüsse auf das Persönlichkeitsprofil einzelner Personen ziehen können. Allein die Weitergabe der IP-Adressen zur Identifikation illegaler Filesharer solle zulässig sein.“
Auswirkungen des Urteils
„Der EuGH versucht die bisherigen Rechtsprechungslinie zu modifizieren – und betont, dass es hier gerade nicht zu einem Bruch mit den bisherigen Entscheidungen kommen solle: Bislang konzentrierten sich die Entscheidungen auf die Datengewinnung im Zuge schwerer Kriminalität. Hier stand ein weitgehender Zugriff auf Vorratsdaten in Rede. Er wurde nur unter sehr engen Voraussetzungen als verhältnismäßig angesehen. Im aktuellen Fall ging es zwar nicht um Delikte wie Menschenhandel oder Mord. Demgegenüber darf aber allein die IP-Adresse übermittelt werden. Die Verantwortung hierfür wird auf die Provider übertragen. Eine vorherige Kontrolle durch ein Gericht oder eine Behörde soll gerade nicht erforderlich sein.“
Weiteres Verfahren in Deutschland nach der Einigung zum Quick-Freeze-Verfahren
„Der derzeit in Deutschland diskutierte und bereits vom EuGH 2022 grundsätzlich als zulässig angesehene Quick-Freeze-Ansatz ist restriktiver als die nun veröffentlichte EuGH-Entscheidung: Es soll keine anlasslose Speicherung von Verbindungsdaten mehr geben. Hier soll nur eine anlassbezogene Vorratsdatenspeicherung bei dem Verdacht einer schweren Straftat zulässig sein, die nur durch einen richterlichen Beschluss angeordnet werden kann. Es stellt sich die Frage, ob die Vorratsdatenspeicherung politisch neu diskutiert wird, um auch die bloße Weiterleitung von IP-Adressen bei Filesharing-Fällen zu ermöglichen. Dies würde regelmäßig eine anlasslose Speicherung vorrausetzen. Ob es hierfür in der Ampel-Koalition Konsens gibt, dürfte zweifelhaft sein.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte in diesem Fall.“
„Es sind keine Interessenkonflikte vorhanden.“
„Keine.“
Weiterführende Recherchequellen
Gerichtshof der Europäischen Union: Rechtssache C-470/21.
Die zum aktuellen Urteil des EuGH zugehörigen Dokumente, von der anfänglichen Klage bis zum Urteil.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Gerichtshof der Europäischen Union (30.04.2024): PRESSEMITTEILUNG Nr. 75/24. Pressemitteilung zum Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-470/21.
[II] Gerichtshof der Europäischen Union (30.04.2024): Urteil des Gerichtshofs, Rechtssache C‑470/21.
[III] Gerichtshof der Europäischen Union (20.09.2022): PRESSEMITTEILUNG Nr. 156/22. Pressemitteilung zum Urteil des Gerichtshofs in den verbundenen Rechtssachen C-793/19 | SpaceNet und C-794/19 | Telekom Deutschland.
[IV] Science Media Center (2022): EuGH-Urteil zur Vorratsdatenspeicherung. Rapid Reaction. Stand: 20.09.2022.
Prof. Dr. Philipp Hacker
Professor für Recht und Ethik der digitalen Gesellschaft, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
Prof. Dr. Dennis-Kenji Kipker
Professor für IT-Sicherheitsrecht, Hochschule Bremen
Prof. Dr. Tobias Gostomzyk
Professor für Medienrecht, Technische Universität Dortmund