Flexibler Stromverbrauch: Reform der Netzentgelte für Industrie
Bundesnetzagentur veröffentlicht Eckpunktepapier zu Netzentgelten der Industrie
neue Regelungen sollen Unternehmen motivieren, ihren Stromverbrauch an schwankendes Angebot anzupassen
Experten befürworten prinzipiell geplante dynamische Netzentgelte und sehen bei Industrie viel Potenzial für flexiblen Verbrauch
Die Industrie soll zukünftig Anreize erhalten, ihren Stromverbrauch an die Schwankungen der erneuerbaren Energien anzupassen und so das Stromsystem zu stabilisieren. Vorschläge dafür hat die Bundesnetzagentur am 24.07.2024 in einem Eckpunktepapier veröffentlicht, das nun bis zum 18.09.2024 konsultiert wird [I] [II]. Die darin beschriebenen Maßnahmen beziehen sich auf die Möglichkeiten für stromintensive Unternehmen, verringerte Netzentgelte zu zahlen.
Forschungskoordinator Energie- und Klimapolitik in der Abteilung Energie und Klimaschutz, Öko-Institut e.V., Berlin
Bewertung des Eckpunktepapiers
„Die Industrie ist der größte Stromverbraucher, den wir in Deutschland haben und die Potenziale, Strom flexibel zu verbrauchen sind hier sehr groß. Unterm Strich wird die Industrie durch die Neuregelung nicht mehr oder weniger Strom verbrauchen, aber die Systemintegrationskosten und die Redispatchkosten werden massiv dadurch sinken, dass die Industrie dazu angereizt wird, Strom flexibel zu verbrauchen.“
Wichtigste Reformvorschläge
„Das Eckpunktepapier beinhaltet vier wichtige Aspekte:“
„Die Abschaffung der reduzierten Netzentgelte für die sogenannte Bandlastlieferung ist uneingeschränkt zu befürworten. Die Änderung war bereits zu erwarten, denn die Regelung ist das zentrale Hemmnis für Flexibilitäten.“
„Der zweite Punkt ist der Einstieg in dynamische Netznutzungsentgelte. Es sollen nicht nur die negativen Anreize abgeschafft werden, sondern die Bundesnetzagentur will die Flexibilitätsanreize durch die Reform der Netznutzungsentgelte erhöhen. Also nicht nur die Hemmnisse abbauen, sondern auch die Börsenpreise in den Entgelten widerspiegeln. Das ist eine sehr erfreuliche Nachricht und ein Einstieg in eine Reform, die dringend notwendig ist. Die Dynamisierung der Netznutzungsentgelte sollte langfristig nicht nur für die Industrie, sondern für alle Verbraucher umgesetzt werden.“
„Die Verstärkung der Börsensignale kann in einigen Situationen Netzengpässe verschärfen. Deshalb müssen regionale Sonderregelungen geschaffen werden. Das Problem wird in dem Eckpunktepapier angesprochen, es werden aber noch keine Lösungen präsentieren. Diese sollen nun im Konsultationsverfahren gesucht werden. Das Problem ist wichtig, aber kein Showstopper für die Reform.“
„Außerdem braucht es Übergangsfristen. Flexibilität muss nicht nur angereizt werden, sondern auch technisch-ökonomisch auf der Nachfrageseite möglich werden. Auch hier soll im Konsultationsverfahren nach Möglichkeiten gesucht werden.“
Flexibilität der Industrie
„Für Industrien gibt es zwei große Hebel, wie sie ihren Stromverbrauch flexibilisieren können. Die erste Möglichkeit ist, Zwischenlager einzurichten. Industrien, die beispielsweise ein chemisches Zwischenprodukt herstellen, das nicht sofort weiterverarbeiten werden muss, sondern erstmal lagern kann, können so ihren Strom flexibler verbrauchen.“
„Die zweite Möglichkeit ist die Modularisierung von Prozessen. Das wird zum Beispiel in der Aluminiumproduktion gemacht, wo man den eigentlichen Prozess nur wenig flexibilisieren kann: Die Anlange, in der man Aluminium schmilzt, die läuft entweder oder sie läuft nicht. Statt einer großen Schmelze kann man hier aber mehrere kleinere betreiben, die man zu unterschiedlichen Zeiten anwerfen kann.“
Wirkung bei aufgeteilten Stromgebotszonen
Auf die Frage, ob dynamische Netzentgelte auch bei nur einer Stromgebotszone für Deutschland sinnvoll sind:
„Das sind zwei unterschiedliche Baustellen, die man voneinander entkoppeln kann. Die Anpassung der Netzentgelte an die Börsenstrompreise hat auch dann einen positiven Effekt, wenn es bei einer Gebotszone bleibt. Es wird das Signal der Börsenpreise verstärkt. Das wirkt auch schon bei einer Gebotszone positiv. Bei mehreren Gebotszonen wäre die Wirkung etwas anders, aber die Dynamisierung der Netzentgelte ist in jeder Welt sinnvoll.“
Geschäftsfeldleiter Systemintegration, Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme, Freiburg
Bewertung des Eckpunktepapiers
„Prinzipiell halte ich die Novellierung der Netzentgelte für die Industrie für wichtig und überfällig. Dabei bietet es sich an, die Netznutzung zukünftig
an das Dargebot erneuerbarer Energien anzupassen und die Bandlastprivilegierung abzuschaffen. Die energieintensive Industrie kann sicherlich sehr stark zur Flexibilisierung beitragen, so dass die Netzentgelt-Systematik ein richtiges Instrument ist, Anreize zu schaffen. Es sollte aber bei den Stromkosten insgesamt keine Belastung entstehen.“
„Zu wenig in dem Vorschlag berücksichtigt sind lokale und regionale Anreize dafür, die Stromleitungen weniger zu beanspruchen, indem weniger Energie durch sie hindurchgeleitet werden muss. Ein Industrieunternehmen sollte Vorteile
bei der Netznutzung bekommen und geringere Netzentgelte zahlen, wenn die Energie regional bezogen wird – zum Beispiel durch Photovoltaik, Wind, Speicher, oder Kraft-Wärme-Kopplung.“
Flexibilität der Industrie
„Die Netzentgeltsystematik orientiert sich bei dem Vorschlag sehr stark an der Anreizung von Flexibilitäten. Die Potenziale der Industrie, ihren Stromverbrauch an das Angebot anzupassen, sind sehr groß. Die geplante Reform könnte von der Industrie aber auch kritisch gesehen werden: Denn es sind Investitionen erforderlich, um Strom flexibel verbrauchen zu können. Chemieunternehmen und Stahl- sowie Zementindustrie sind kontinuierliche Produktionsprozesse, die rund um die Uhr laufen und für die ein schwankender Strombedarf schwierig umzusetzen ist. Deshalb könnte es für die Industrie zukünftig auch interessant sein, eigene Speicher oder Wasserstoff-Kraftwerke mit Kraft-Wärme-Kopplung zu betreiben, die bei einem hohen Strompreis einspringen.“
Wirkung bei aufgeteilten Stromgebotszonen
„Mehrere Stromgebotszonen wären für die Situationen sinnvoll, in denen Engpässe im Netz entstehen. Die Netzentgeltsystematik ließe sich auch auf geteilte Gebotszonen anwenden – das wäre sogar noch besser, da regionale Abhängigkeiten im Netz berücksichtigt würden. Dies würde allerdings zu höheren Preisen im Süden führen.“
Professor am Lehrstuhl für Umwelt-/Ressourcenökonomik und Nachhaltigkeit, Ruhr-Universität Bochum
Bewertung des Eckpunktepapiers
„Das Eckpunktepapier der Bundesnetzagentur zur Fortentwicklung der Industrienetzentgelte im Elektrizitätsbereich ist grundsätzlich sehr zu begrüßen. Netzentgelte spielen eine immer größere Rolle und sollten so ausgestaltet sein, dass sie das nachhaltige Energiesystem der Zukunft unterstützen und Lasten gerecht verteilen. Mit Blick auf den Einsatz von Flexibilitätsoptionen ist dies in der aktuellen Ausgestaltung nicht mehr der Fall. Deshalb ist es gut, dass die Privilegierung für eine konstant gleichbleibende Stromnachfrage durch stromintensive Unternehmen rasch auslaufen soll. Diese Regelung hat die Anreize für ein systemdienliches Nachfrageverhalten als Antwort auf schwankende Strompreise auf den Strommärkte in der Industrie gehemmt.“
„Auch der Vorschlag für variable und dynamischen Netzentgelte ist grundsätzlich sehr begrüßenswert. So kann in den Zeiten hoher lokaler Stromeinspeisung oder hoher Stromnachfrage ein wichtiger Anreiz zur Flexibilitätsbereitstellung in Form niedriger beziehungsweise sogar negativer oder hoher Netzentgelte gesetzt werden. Das vorgeschlagene
Sondernetzentgelt zielt zurecht darauf ab, Stromverbräuche in die Zeiten zu verlagern, in denen viel günstige Erzeugung zur Verfügung steht. Hier wird richtigerweise auf das Marktsignal und die angestrebte Stärkung des Marktsignals hingewiesen.“
Zusammenspiel mit Stromgebotszonen
„Hier wird ein zentrales Problem des Vorschlags zur Neuregelung der Netzentgelte für die Industrie deutlich: Augenblicklich gibt es keine sinnvolle Preissignale im deutschen Strommarkt, vielmehr werden regionale Unterschiede bei Stromangebot und -nachfrage ignoriert. Notwendig sind aber lokale Preise, um die Flexibilitäten – auch die industriellen Flexibilitäten – netzdienlich einzusetzen. Gäbe es diese lokalen Preise, könnten dynamische Netzentgelte relativ einfach als Hebel genutzt werden. Ist dies nicht der Fall, dann braucht es einen komplexeren Ansatz, der auf Bürokratieaufwand und potenzielle Fehlanreize für den Strommarkt zu prüfen ist. Wenn in diesem Kontext systemdienliches Verhalten und Netzentgeltprivilegierung an (falschen) Preissignalen gemessen werden, kann der – an sich gute Vorschlag – zu den Sondernetzentgelten nicht seine volle Wirkung entfalten. Besser als der Status quo ist er allemal.“
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung, Karlsruhe
Einordnung der aktuellen Situation
„Eine Reform des Paragrafen 19 Absatz zwei der Stromnetzentgelt-Verordnung ist grundsätzlich wichtig, um dessen Fesseln einer starren Stromnachfrage zu lösen und flexibles Verbrauchsverhalten zu fördern. Die Flexibilität der industriellen Stromnachfrage ist wichtig, um auf das schwankende Angebot der volatilen Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien reagieren zu können und wertvolle grüne Energie nicht abregeln zu müssen. Die Herausforderung liegt jedoch in der konkreten Ausgestaltung der Netzentgelte, die die Integration der volatilen erneuerbaren Energien fördert und gleichzeitig die Netzkosten für die energieintensive Industrie insgesamt nicht erhöht.“
„Systemstudien wie die Langfristszenarien des BMWK zeigen, dass mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien in der Energiewende die Netzkosten stärker steigen als die Stromnachfrage. Dies führt nach dem geltenden Mechanismus der Kostenwälzung zu steigenden Netzentgelten für alle Verbraucher – ein ‚Netzkostendilemma‘. Die Energiekostenbelastung der energieintensiven Industrie ist bereits hoch und die Privilegierung nach Paragraf 19 Absatz zwei der Stromnetzentgelt-Verordnung eine der letzten Bastionen für wettbewerbsfähigere Energiekosten in Deutschland. Bei der Ausgestaltung der von der Bundesnetzagentur geplanten besonderen Netzentgelte sollte daher unabhängig vom Flexibilitätsverhalten der Industrie darauf geachtet werden, dass das Netzkostenniveau für die Industrie ähnlich niedrig bleibt wie bei der bestehenden Regelung.“
Bewertung des Eckpunktepapiers
„Eine Netzentgeltgestaltung, die ein am Börsenstrompreis orientiertes Verbrauchsverhalten der Industrie fördert, wirkt sich grundsätzlich positiv auf die Integration erneuerbarer Energien aus. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass eine solche Neuregelung wesentlich zur Entlastung der Netze oder zur Senkung der Netzkosten beiträgt, da explizite Signale zur Netzauslastung im Börsenstrompreis fehlen. Netzengpässe müssten beispielsweise durch Sonderregelungen adressiert werden. Viele Details der geplanten neuen Sondernetzentgelte sind zunächst unklar – die Auswirkungen auf die Strommärkte und die Netze hängen aber entscheidend von diesen Details ab.“
Auf die Frage, welche Aspekte des Eckpunktepapiers sinnvoll sind:
„Der Abbau ökonomischer Anreize, sich mit dem Stromverbrauch innerhalb starr vorgegebener Bandlasten zu bewegen, fördert die Flexibilisierung der industriellen Stromnachfrage. Dies begünstigt die Elektrifizierung und kann damit die Dekarbonisierung von industriellen Prozessen vorantreiben.“
Auf die Frage, welche Aspekte des Eckpunktepapiers kritisch zu sehen sind:
„Eine Kopplung der Netzentgeltprivilegierung der Industrie an flexibles Verhalten kann auch problematisch wirken. Entsprechend würden zunächst Branchen profitieren, die Flexibilität bereitstellen können. Branchen mit kontinuierlichen Prozessen, die prozessbedingt nicht flexibel produzieren können, müssten für mehr Flexibilität zum Beispiel in Überkapazitäten, Speicher oder Lager investieren. Diese Investitionen kämen zusätzlich zu den Anstrengungen, die sich aus der Umstellung auf klimaneutrale Prozesse ergeben.“
Flexibilität der Industrie
„Derzeit sind die Flexibilisierungspotenziale in der energieintensiven Industrie eher gering und auf kurze Zeiträume von wenigen Stunden beschränkt. Um zusätzliche Flexibilität bereitzustellen, kann in verschiedene technische Möglichkeiten wie Lastverschiebung in Prozessen, Speicher oder hybride Anlagentechnik investiert werden. Je nach Ausgestaltung der neuen Regelungen könnten daraus entstehende Mehrkosten die Kostenvorteile bei den Netzentgelten übersteigen. Unabhängig von der Flexibilisierung erfordert die Dekarbonisierung der Industrie allerdings eine weitgehende Elektrifizierung der Prozesse, welche umfangreiche Investitionen erfordern.“
„Von Netzentgeltprivilegien durch Flexibilität könnten insbesondere Branchen profitieren, die Prozesswärme zur Dampferzeugung nutzen, wie die Chemie-, Papier- und Lebensmittelindustrie. Kontinuierliche Prozesse, wie zum Beispiel in der Glasindustrie, könnten hingegen durch die neuen Anforderungen benachteiligt werden.“
Zusammenspiel mit Stromgebotszonen
„Diese beiden Aspekte hängen nicht direkt miteinander zusammen. Das Auslaufen der Bandlastprivilegierung nach Paragraf 19 Absatz zwei der Stromnetzentgelt-Verordnung würde Hemmnisse für die Flexibilisierung der industriellen Stromnachfrage abbauen, was die Marktintegration erneuerbarer Energien verbessert, sich allerdings sowohl positiv als auch negativ auf die Netzbelastung auswirken kann. Eine Aufteilung der einheitlichen Stromgebotszone kann zu einer Entlastung der Übertragungsnetze führen, allerdings auch zu höheren Preisen für Industriestandorte in Süddeutschland und einer niedrigeren Liquidität des Strommarkts.“
„Auch bei Weiterbestehen der einheitlichen Gebotszone – was auf absehbare Zeit der Fall sein wird – kann eine Neuregelung der Netzentgeltsystematik für die Industrie zu einer verbesserten Marktintegration von Erneuerbaren führen. Gleichzeitig kann eine solche Neuregelung nicht sämtliche Probleme lösen, die durch eine einheitliche Gebotszone entstehen.“
Dieses Statement entstand in Zusammenarbeit mit Michael Stecher und Michael Haendel, Wissenschaftliche Mitarbeiter am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung sowie Marian Klobasa, Leiter des Geschäftsfelds Energiemanagement und Intelligente Netze am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung.
„Ich habe keine Interessenkonflikte.”
„Ich sehe keine Interessenkonflikte.“
„Ich habe in Bezug auf die Netzentgelt-Systematik keine Interessenkonflikte.”
„Interessenkonflikte sehe ich keine.“
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Bundesnetzagentur (24.07.2024): Bundesnetzagentur plant Reform der Netzentgelte für Industrie. Pressemitteilung.
[II] Bundesnetzagentur (2024): Eckpunkte zur Fortentwicklung der Industrienetzentgelte im Elektrizitätsbereich.
Dr. Felix Christian Matthes
Forschungskoordinator Energie- und Klimapolitik in der Abteilung Energie und Klimaschutz, Öko-Institut e.V., Berlin
Prof. Dr. Christof Wittwer
Geschäftsfeldleiter Systemintegration, Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme, Freiburg
Prof. Dr. Andreas Löschel
Professor am Lehrstuhl für Umwelt-/Ressourcenökonomik und Nachhaltigkeit, Ruhr-Universität Bochum
Dr. Jan George
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung, Karlsruhe