Kipppunkte: Prognosen mit sehr großen Unsicherheiten behaftet
Prognosen, wann ein Kippelement des Erdsystems seinen Tipping Point erreicht, nur mit extrem großen Unsicherheiten möglich
Diskussionen um Kippelemente sind häufig intensiv und polarisiert – sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit
Forschende: methodisch saubere Studie, die aber die Diskussion um die Kippunkte nicht verändern wird
Die Vorhersage, wann ein Kippelement des Erdsystems seinen Kipppunkt erreicht haben wird, ist deutlich schwieriger als bisher angenommen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, an der auch Forschende der Technischen Universität München (TUM) und des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) beteiligt waren und die am 02.08.2024 im Fachjournal „Science Advances“ veröffentlicht wurde (siehe Primärquelle). Dies läge an den Unsicherheiten, mit denen die den Prognosen zugrundeliegenden Messdaten und Annahmen behaftet sind. Diese seien so groß, dass eine zuverlässige Vorhersage nicht möglich wäre. So ließe sich etwa der vieldiskutierte Zeitpunkt des möglichen Überschreitens des Tipping Points der Atlantischen Umwälzzirkulation (AMOC) nicht genauer als zwischen den Jahren 2053 und 8065 eingrenzen. Die Studie liefert einen wichtigen Beitrag zu der häufig intensiv und polarisiert geführten Diskussion [I] über das Thema Kippelemente und Tipping Points.
Leiter der Arbeitsgruppe Dynamik des Paläoklimas, Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), Bremerhaven, und Assoziierter Professor in der Arbeitsgruppe Paläoklimadynamik, Fachbereich Physik des Klimasystems, Zentrum für Marine Umweltwissenschaften (MARUM), Universität Bremen
Methodik
„Die Studie ist interessant und gibt methodische Hinweise auf die Analyse von Beobachtungsdatensätzen, verknüpft mit theoretischen Ansätzen. Sie stellt in meinen Augen aber eher eine Verfeinerung anderer Arbeiten von Niklas Boers dar, der einer der Autoren dieser Studie ist. In der Tat wird eine Methode benutzt, die Instabilitäten aus Beobachtungsdaten abschätzt, so wie auch bei der in der Studie erwähnten Arbeit [IV]. Die Unsicherheiten in dieser neuen Studie stammen unter anderem aus den Unsicherheiten in den gemessenen Meeresoberflächendaten.“
„Aber: Methodisch ist das immer noch recht einseitig, das heißt, es wird nur ein Teil aller verfügbaren Informationen genommen.“
„Die Methode, aus Beobachtungsdaten AMOC-Proxys abzuleiten, stammt – soweit ich das übersehen kann – aus einer unserer Arbeiten [1], die von anderen etwas modifiziert wurde [2].“
„Ich muss zugeben, dass der Fingerabdruck der AMOC aufgrund von Änderungen der Oberflächentemperaturen des Wassers seine Grenzen hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Fingerabdruck über die nächsten 6.000 Jahre konstant ist. Obwohl ich die Methode mit ‚erfunden‘ habe, kann ich mir nicht vorstellen, dass das Muster gleichbleibt, gerade angesichts der globalen Erwärmung und der Änderungen im grönländischen Eisschild. Diese Änderungen sind so dominant, dass die Tiefenwasserbildungsregionen in der AMOC anders aussehen (siehe unten).“
Konsequenzen
Auf die Frage, ob denn die größeren Unsicherheiten auch bedeuten, dass ein möglicher Zeitpunkt des Kippens früher als bisher angenommen erreicht sein kann:
„Ja! Wir haben bei unseren Arbeiten gerade herausgefunden, dass die AMOC Kipppunkte hat, die aber eher regionaler Natur sind [3]. Vor allem kleine Ozeanwirbel haben einen erheblichen Einfluss auf die Dynamik der AMOC. So ist beispielsweise im Nordmeer ein Anstieg der regionalen AMOC zu beobachten, während in anderen Regionen ein abrupter Rückgang auftritt. Unsere Ergebnisse unterstreichen den Bedarf an hochauflösenden Klimasimulationen, um das komplexe Verhalten und die Wechselwirkungen der AMOC-Variabilität auf verschiedenen Skalen genau zu erfassen und zu verstehen. Nur durch eine solch detaillierte Modellierung können künftige Veränderungen genau vorhergesagt und mögliche Folgen für das Klimasystem abgeschätzt werden.“
„Daran sieht man, dass es neue AMOC-Äste gibt, die sich zum Beispiel auch verstärken können – etwa der Arktische Ast. In meinen Augen ist das System so komplex, dass verschiedene Ansätze notwendig sind, von Konzeptmodellen bis hin zu wirbelauflösenden Modellen, und Modellen, die das grönländische Eisschild miteinberechnen. Da besteht noch erheblicher Forschungsbedarf, und auch die Interpretation vergangener Klimawechsel - des sogenannten Paläoklimas – ist nicht ganz einfach. Auch da zeigen neuere Daten eher ein komplexeres Bild.“
„Die drei in der aktuellen Studie beschriebenen Quellen der Unsicherheiten sind tatsächlich limitierend. Die Extrapolation von Daten aus der Vergangenheit in die Zukunft unter Annahme der zugrundeliegenden physikalischen Mechanismen ist ein riesiger Schwachpunkt der bisherigen Prognosen. Und ich sehe auch, dass einige Komponenten des Erdsystems durch die Daten möglicherweise nicht angemessen repräsentiert werden.“
Auf die Frage, inwiefern diese Studie die Diskussion um die Kippelemente verändern wird:
„Ich weiß nicht, ob so grundlegende Erkenntnisse zu dem Thema oder Revolutionen daraus folgen werden.“
Leiter der Forschungsgruppe Wechselwirkung Klima-Biosphäre, Abteilung Klimadynamik, Max-Planck-Institut für Meteorologie, Hamburg, und Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN), Universität Hamburg
„Zuerst möchte ich betonen, dass meine Expertise sich auf biosphärische Kipppunkte bezieht – grüne Sahara, boreale Wälder – und nicht auf die AMOC.“
Methodik
„Die Methodik ist technisch korrekt. Die Hauptannahme dieser und früherer Studien ist, dass das jeweilige Kippelement des Klimasystems bi-stabil ist und seine Dynamik durch ein einfaches Modell erfasst wird. Aus der bahnbrechenden Studie von 2004 [4] über den sogenannten Critical Slowing Down (CSD) des AMOC wissen wir bereits, dass die Unsicherheit in den Schätzungen des Abstands zu Kipppunkten sehr groß ist. Die wichtigste Neuerung der aktuellen Studie ist die detaillierte Analyse der in [5] verwendeten Methode und die Erörterung der verschiedenen Arten von Unsicherheiten bei der Schätzung von Kipppunkten aufgrund von methodischen Annahmen und Einschränkungen der verfügbaren Daten.“
Konsequenzen
Auf die Frage, inwiefern sich die Unsicherheiten künftig besser ausräumen lassen:
„Ich stimme den Autoren der aktuellen Studie zu, dass die Methoden zur Abschätzung der zeitlichen Entfernung zu Kipppunkten mit großer Unsicherheit behaftet sind. Ob sie in Zukunft vorhersehbar sein werden, ist schwer abzuschätzen, zumal sich die Kipppunkte des Klimas in Bezug auf ihre Mechanismen und die verfügbaren Beobachtungsdaten unterscheiden. Auch die Qualität und Auflösung der auf Fernerkundung basierenden Beobachtungsdaten verbessert sich rapide, so dass bald neue Methoden entwickelt werden könnten, die auf räumlichen Mustern der beobachteten Veränderungen basieren.“
Auf die Frage, ob denn die größeren Unsicherheiten auch bedeuten, dass ein möglicher Zeitpunkt des Kippens früher als bisher angenommen erreicht sein kann:
„Im Prinzip ja. Die Studie berichtet nur über eine bestimmte Art von Kipppunkt der aufgrund von Frühwarnsignalen potenziell vorhersehbar ist.“
Auf die Frage, inwiefern diese Studie die Diskussion um die Kippelemente verändern wird:
„Ich denke nicht, dass sie die Debatte verändern wird, aber die Studie stellt die Diskussion über die bestimmte Art der Vorhersage von Kippphänomenen auf eine solide methodische Grundlage.“
Leiterin des Arbeitsbereiches Experimentelle Ozeanographie, Institut für Meereskunde, Universität Hamburg
Methodik
„Diese Studie stellt einen wertvollen Kontrapunkt zur Studie [5] dar. Sie untersucht die Grenzen statistischer Darstellungen von Kipppunkten und zeigt, wie die mit einer statistischen Vereinfachung einhergehenden Annahmen zu verzerrten Ergebnissen führen können. Es ist eine überzeugende Demonstration dafür, wie vorsichtig wir sein sollten, wenn wir aus statistischen Methoden genaue zeitliche Abläufe für Kipppunkte ableiten.“
Konsequenzen
Auf die Frage, inwiefern sich die Unsicherheiten künftig besser ausräumen lassen:
„Es ist wichtig, dass wir versuchen zu bestimmen, ob die AMOC kippen kann und wie schnell dies geschehen könnte. Das ist klar und es gibt Hinweise darauf, dass die AMOC kippen kann und in der Vergangenheit gekippt ist. Beobachtungen werden uns nicht in die Lage versetzen, Vorhersagen zu treffen, aber sie geben uns einen guten Einblick in die Ursachen für die Schwankungen der AMOC-Stärke in der Gegenwart. Wenn wir Vorhersagen für die künftige AMOC machen wollen, würde ich mich mit den Vorhersagen eines Modells wohler fühlen, das auch die heutige Variabilität der AMOC darstellen kann.“
Auf die Frage, inwiefern diese Studie die Diskussion um die Kippelemente verändern wird:
„Die aktuelle Studie hat die Unsicherheiten in der statistischen Methodik aufgezeigt. Leider sind Unsicherheiten nicht so schlagzeilenträchtig wie Warnungen vor einem drohenden Zusammenbruch.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
„Ich habe mit Sebastian Bathiany (einem der Autoren der Studie) zusammengearbeitet, als er Doktorand und Postdoc am MPI für Meteorologie war, und habe kürzlich mit ihm einen Artikel über Kipppunkte in Paläoaufzeichnungen veröffentlicht [6]. Ich denke nicht, dass meine Meinung dadurch beeinflusst wird.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Ben-Yami M et al. (2024): Uncertainties too large to predict tipping times of major Earth system components from historical data. Sciences Advances. DOI: 10.1126/sciadv.adl4841.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Dima M et al. (2010): Evidence for two distinct modes of large-scale ocean circulation changes over the last century. Journal of Climate. DOI: 10.1175/2009JCLI2867.1.
[2] Loriani S et al. (2023): Tipping points in ocean and atmosphere circulations. Preprint auf EGUspere. 10.5194/egusphere-2023-2589.
[3] Gou R et al. (2024): Atlantic Meridional Overturning Circulation decline: Tipping small scales under global warming. Physical Review Letters. DOI: 10.1103/PhysRevLett.133.034201.
[4] Held H et al. (2004): Detection of climate system bifurcations by degenerate fingerprinting. Geophysical Research Letters. DOI: 10.1029/2004GL020972.
[5] Ditlevsen P et al. (2023): Warning of a forthcoming collapse of the Atlantic meridional overturning circulation. Nature Communications. DOI: 10.1038/s41467-023-39810-w.
dazu: Science Media Center (2023): Kritik an Studie zum baldigen Kollaps des Golfstroms. Research in Context. Stand: 25.07.2023.
[6] Brovkin V et al. (2021): Past abrupt changes, tipping points and cascading impacts in the Earth system. Nature Geoscience. DOI: 10.1038/s41561-021-00790-5.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Science Media Center (2023): Die „Letzte Generation" und die Debatte um Kipppunkte des Klimasystems. Rapid Reaction. Stand: 10.05.2023.
[II] Lenton TM et al. (2008): Tipping elements in the Earth’s climate system. PNAS. DOI: 10.1073/pnas.0705414105.
[III] Lenton TM et al. (2023): The Global Tipping Points Report 2023. University of Exeter.
dazu: Science Media Center (2023): Globaler Bericht zu Kipppunkten im Erdsystem und in der Gesellschaft. Press Briefing. Stand: 06.12.2023.
[IV] Science Media Center (2023): Kritik an Studie zum baldigen Kollaps des Golfstroms. Research in Context. Stand: 25.07.2023.
Prof. Dr. Gerrit Lohmann
Leiter der Arbeitsgruppe Dynamik des Paläoklimas, Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), Bremerhaven, und Assoziierter Professor in der Arbeitsgruppe Paläoklimadynamik, Fachbereich Physik des Klimasystems, Zentrum für Marine Umweltwissenschaften (MARUM), Universität Bremen
Prof. Dr. Victor Brovkin
Leiter der Forschungsgruppe Wechselwirkung Klima-Biosphäre, Abteilung Klimadynamik, Max-Planck-Institut für Meteorologie, Hamburg, und Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN), Universität Hamburg
Prof. Dr. Eleanor Frajka-Williams
Leiterin des Arbeitsbereiches Experimentelle Ozeanographie, Institut für Meereskunde, Universität Hamburg