Optogenetische Gentherapie lässt Erblindeten Objekte erkennen
Laut einem Fallbericht stellte eine optogenetische Gentherapie bei einem erblindeten Patienten mit fortgeschrittener Retinitis pigmentosa (RP) das Sehvermögen in dem behandelten Auge rudimentär wieder her. Über diese Ergebnisse berichtet eine französisch-amerikanisch-schweizerischen Forschergruppe im Fachjournal „Nature Medicine“ (siehe Primärquelle). Der 58-jährige Mann litt seit 40 Jahren an einer nicht-syndromischen Form der RP, das heißt einer durch Vererbung oder spontane Mutation entstehende Netzhautdegeneration, bei der die Photorezeptoren zerstört werden. Dem blinden Patienten wurden in der Open Label Phase 1/2 „PIONEER“-Studie 5x1010 adenoassoziierte Viren in eines seiner beiden Augen injiziert [I]. Der Patient galt als funktionell erblindet, das nicht behandelte Auge diente in dem Experiment als interne Kontrolle. Laut den Forschenden handelt es um den ersten in der Fachliteratur beschriebenen Fall „einer partiellen funktionellen Erholung bei einer neurodegenerativen Erkrankung nach optogenetischer Therapie".
Department für Neuro- und Bewegungswissenschaften, Fakultät für Naturwissenschaften und Medizin, Universität Freiburg, Schweiz
„Die neue Studie ist ein sehr bedeutender Schritt auf dem langen und schwierigen Weg, eine visuelle Prothese zu entwickeln. Entsprechende Ansätze werden schon seit Jahrzehnten mit wechselndem Erfolg erprobt. Neu und spannend ist der Weg über die Optogenetik.“
“Die Autoren um Sahel und Roska sowie andere Forschergruppen haben die Methodik zum ersten Mal in den Jahren 2005 bis 2010 an Mäusen untersucht, dem folgten weitere Tests in nichtmenschlichen Primaten [V]. Dies ist nun die erste veröffentlichte Fallstudie an einem Patienten mit langjähriger Blindheit aufgrund von Retinitis pigmentosa.“
„Die Weiterentwicklung der Optogenetik für den Menschen ist nicht nur für die Behandlung der Blindheit, sondern auch generell für die Therapie neurologischer Erkrankungen ein exzellenter Fortschritt. Sehr ermutigend sind die berichteten Sehleistungen des Patienten, nicht nur im Labor, sondern sogar im Alltag. Weitere Studien werden sicherlich weitere Details klären, zum Beispiel wie genau die behandelten Neurone in der menschlichen Netzhaut auf die optogenetische Stimulation reagieren. Für Patienten wichtig ist die Klärung der Frage, ob der gewählte Ansatz auch dann erfolgreich ist, wenn beide erblindeten Augen behandelt werden.“
„Um Empfehlungen für eine Therapie abzuleiten, ist es meiner Ansicht nach noch zu früh. Dafür werden Untersuchungen über einen längeren Zeitraum und an einer größeren Stichprobe von Patienten benötigt. Aber genau solche Studien werden ja momentan durchgeführt.“
„Das Einfügen des tdTomato-Gens (Das Stück Erbgut sorgt dafür, dass durch die Gentherapie modifizierte Ganglien in vivo durch Lichteinfall identifiziert werden können. Für den Patienten bringt das keinen Vorteil; Anm. d. Red.) halte ich aus Sicht der Forschung momentan für sehr wichtig, da hiermit die erfolgreiche Behandlung der Neurone nachgewiesen und quantifiziert werden kann.“
„Die optogenetische Behandlung der Netzhaut ist eine noch vergleichsweise junge Methode, die genauso weiterentwickelt wird wie die Stammzelltherapie oder auch Ansätze, bei denen die Neurone in der Netzhaut oder im visuellen Kortex elektrisch stimuliert werden. Gerade in diesem Bereich der kortikalen Prothesenentwicklung gab es im vergangenen Jahr ebenfalls sehr erfreuliche Fortschritte [1][2]. Der kortikale Ansatz gilt als vielversprechend, wenn neben den Photorezeptoren im Auge auch noch nachgeschaltete Neurone und der Sehnerv geschädigt sind.“
„Als Wissenschaftler sind wir sehr froh und dankbar, wenn Journalisten über diese Fortschritte berichten. Ich halte es aber für wichtig zu betonen, dass es sich hierbei um einen allerersten Schritt beim Menschen handelt, der auf erfolgreichen Untersuchungen im Tiermodell über viele Jahre hinweg aufbaut. Die Wissenschaftler benötigten also einen sehr langen Atem und auch die Öffentlichkeit wird noch Ausdauer und Geduld für weitergehende klinischen Anwendungen haben müssen. Ich erhoffe mir einen Domino-Effekt für weitere Entwicklungen und Erfolge mit optogenetischen Behandlungsansätzen für neurologische Erkrankungen.“
Hertie-Professor für Neurowissenschaften und Leiter der Arbeitsgruppe Experimentelle Biophysik, Humboldt-Universität zu Berlin
„Die Präsentation eines Patienten, dem eine gewisse, aber doch deutliche Sehfähigkeit seines erblindeten Auges durch Expression (das heißt der Bildung eines von einem Gen kodierten Genprodukts; Anm. d. Red.) eines Licht-aktivierten Ionenkanals aus Mikroalgen zurückgegeben wird, ist, denke ich, medizinisch ein Durchbruch in eine neue Ära zur Behandlung von Retinitis Pigmentosa. Ich denke daran besteht kein Zweifel.“
„Für mich als Grundlagenforscher stellt sich das als verdienter Erfolg der Ophthalmologen dar, die nach der molekularen Identifizierung der Kanalrhodopsine im Jahre 2001 und dem Bericht der Pionierexperimente von Zhuo-Hua Pan im Jahre 2006 systematisch an der Verbesserung der Methode in Mäusen und Affen gearbeitet und damit die Anwendung im Menschen vorbereitet haben. Der berichtete Erfolg ist in erster Linie ein Verdienst von Rose Alain Sahel, einem großartigen Wissenschaftler, Augenarzt und wunderbaren Menschen, der seit etwa 15 Jahren an der Optimierung der optogenetischen Methode arbeitet. Er wurde unterstützt vom Team um Botond Roska, die Grundlagenexperimente zur Expression gemacht haben.“
„Eine Expression von Photorezeptoren in Sekundärzellen der Retina wird nie die volle Sehfähigkeit zurückbringen können. Allerdings ist die Tatsache, dass ein optogenetisch behandelter Patient sich in seiner Umgebung visuell orientieren und die Zebrastreifen auf der Straße zählen kann, sicherlich ein toller Erfolg und ein Gewinn an Lebensqualität. Die Probleme waren anfänglich die geringen durch Kanalrhodopsine erzeugten Photoströme sein, die hohe nötige Lichtintensität und auf der anderen Seite die Sättigung der Photoströme bei voller Lichtstärke im Außenbereich. Der Grund ist die geringe Menge an Photorezeptormolekülen in den Sekundärzellen und die fehlenden Regulationsmechanismen, die unser Auge so großartig machen.“
„Schließlich hat die Verwendung der rotlichtempfindlichen Chrimson-Kanalrhodopsins in Kombination mit den Kamerabrillen der österreichischen Ingenieure, die rote Bilder gleichbleibender Intensität erzeugen, den Ansatz zum Erfolg gebracht.“
„Der klinische Einsatz ist damit noch lange nicht absehbar und vieles kann in naher Zukunft verbessert werden. Die Expression wird in Zukunft noch gleichmäßiger über die Retina erfolgen müssen, es werden sicherlich weitere Kanalrhodopsine mit höheren Leitfähigkeiten eingesetzt werden und die Virustechnologie der Gentherapie wird sich sicherlich weiter verbessern müssen. Das angehängte lösliche Fluoreszenzprotein dient der Expressionsverbesserung des membranintegrierten Kanslrhodopsins und ist grundsätzlich unschädlich, ob es Antikörperreaktionen hervorruft, ist noch unklar. Man wird es wahrscheinlich in Zukunft nicht mehr brauchen. Membranproteine wie die Kanalrhodopsine mit nur kleinen hyrophilen Loops (Struktur der Proteinfaltung; Anm. d. Red.) lösen zum Glück selten Immunreaktionen aus.“
Auf die Frage, wo das Feld der optogenetischen Gentherapie aktuell mit Blick auf sinnvolle klinische Anwendungen steht?
„Der Patient hatte noch Restsehfähigkeit auf einem Auge, wogegen allein das ganz erblindete Auge behandelt wurde. Es ist derzeit weiterhin unklar, wann das Gehirn komplett die Fähigkeit verliert, die neuen optogenetischen Signale zu verstehen und damit wie lange damit nach Erblindung eine Therapie wirksam werden kann.“
Auf die Frage, wie optogenetische Anwendungen im Vergleich zu alternativen Therapieansätze darstehen:
„Das Beste wäre sicherlich, das defekte Gen zu reparieren, bevor die Photorezeptorzellen absterben. Aber dazu bedarf es noch ganz anderer Anstrengungen bis das ‚sicher‘ funktioniert. Die aktuelle Frage ist, ob die optogenetische Therapie mit der Chip-Implantation von Eberhart Zrenner und Kollegen in Tübingen konkurrieren kann. Das wird sich wahrscheinlich in Kürze zeigen. Andererseits kann es für beide Anwendungen spezifische Patienten geben, sodass beide Technologien weiter zur Anwendung kommen könnten.“
Auf die Frage, mit welchem Tenor Journalisten über diesen ersten klinischen Fallbericht berichten sollten:
„Mit vorsichtiger Freude und Zuversicht, die Mut zur weiteren umsichtigen Entwicklung macht, so wie es Herr Sahel vorgemacht hat. Ich bin sicher, dass wir hier in Europa weiter gute Beiträge liefern können.“
Scientific Director, Ligon Research Center of Vision, Kresge Eye Institute and Department of Ophthalmology, Visual and Anatomical Sciences, Wayne State University School of Medicine, USA
„Dies ist ein wichtiger Fallbericht und zugleich die erste in einer Fachzeitschrift veröffentlichte Studie über eine optogenetische Therapie zur Wiederherstellung des Sehvermögens. Obwohl die Ergebnisse lediglich von einem Patienten stammen, zeigt der Bericht überzeugend, dass die optogenetische Therapie bei einem blinden RP-Patienten ein brauchbares Sehvermögen wiederherstellen kann – ein Ergebnis, auf das ich als ein Pionier der Technologie seit Jahren gewartet habe.“
„Leider konnte die Studie nur einen behandelten Patienten mit der niedrigsten Dosis trainieren und testen. Das wiederhergestellte Sehvermögen scheint zudem stark begrenzt zu sein. Interessanterweise musste der Patient während der Sehtests eine Head-Scanning-Strategie anwenden. Es ist nicht klar, ob der Patient überhaupt Sehschärfe gewonnen hat. Nichtsdestotrotz sind die Ergebnisse sehr ermutigend, es besteht die Aussicht, mit weiteren Verbesserungen der Technologien, einschließlich der Entwicklung besserer optogenetischer Werkzeuge und einer effizienteren Verabreichung von viralen Vektoren, die Ergebnisse weiter zu optimieren.“
„Die Implantation elektronischer Geräte ist ebenfalls ein Ansatz das Sehvermögen wiederherzustellen. Aufgrund technischer Probleme ist die räumliche Auflösung des wiederhergestellten Sehvermögens aber begrenzt. Dagegen kann ein optogenetischer Ansatz im Prinzip eine höhere Auflösung der Sehschärfe erreichen. Elektrische Geräte sind zudem invasiver. Ein weiterer Ansatz ist die Zelltransplantation, also regenerative Stammzelltherapien. Dieser Ansatz hat ein großes Potenzial, aber auch viele Herausforderungen, wie zum Beispiel, dass die Zellen nach der Transplantation in der Netzhaut nicht nur überleben müssen, sondern auch wieder mit den nachgeschalteten Neuronen verbunden werden müssen. An diesem Punkt scheint der optogenetische Ansatz praktikabler zu sein.“
Auf die Frage, ob man in Zukunft immer eine Brille brauchen würde, um mit hellem Licht zu stimulieren:
„Früher dachte ich, dass die Verwendung von Brillen für die behandelten Patienten stets erforderlich sein würde. Der Hauptgrund für die Notwendigkeit der Verwendung einer Brille ist, dass Kanalrhodopsin-exprimierende Netzhautneuronen im Allgemeinen nur eine geringe Lichtempfindlichkeit aufweisen, so dass man sehr helles Licht über die Brille projizieren müsste, um die transduzierten Neuronen (Zellen, die durch Viren Gene erhalten haben; Anm. d. Red.) in der Netzhaut zu aktivieren. Wie in dieser Arbeit berichtet, liegt die erforderliche Lichtintensität zur Aktivierung von ‚Chrimson‘-transduzierten retinalen Neuronen im Bereich von 1015 bis 1016 Photonen pro cm2s (Quadratzentimeter und Sekunde; Anm. d. Red.). In meinem Labor haben wir jedoch kürzlich ein einsatzfähigeres lichtempfindliches Kanalrhodopsin entwickelt. Mit diesem neuen optogenetischen Werkzeug kann die Wiederherstellung des funktionellen Sehvermögens bei blinden Mäusen im Bereich der Lichtintensität von etwa 1013 bis 1015 Photonen pro cm2s beobachtet werden, was in etwa dem Übergang von Straßenbeleuchtung zu der Helligkeit in einem Operationssaal entspricht. Wenn sich dies auf den Menschen übertragen ließe, bräuchten die behandelten Patienten bei den meisten normal vorkommenden Lichtverhältnissen keine Brille mehr zu tragen [3].“
Waynflete Professor of Physiology, Wellcome Investigator, University of Oxford, Vereinigtes Königreich
„Die Studie stellt einen bedeutenden Meilenstein in der therapeutischen Anwendung der Optogenetik dar. Seit den Anfängen der Technologie, die vor 20 Jahren als reines Forschungsinstrument entstand, wurde viel über solche Anwendungen spekuliert – und auch ziemlich viel Schaum geschlagen.“
„Es ist kein Zufall, dass der erste klinische Erfolg in der visuellen Wiederherstellung erzielt wurde: Die Netzhaut ist ein leicht zugänglicher Teil des Nervensystems. Es ist natürlich Licht ausgesetzt und immunologisch privilegiert und wir verstehen seine neuronalen Schaltkreise besser als die von praktisch jedem anderen Teil des Gehirns.“
„Wenn optogenetische Behandlungen für andere neurologische und psychiatrische Indikationen Realität werden sollen, müssen wir zunächst unser grundlegendes Verständnis der relevanten Gehirnstrukturen verbessern. Dieses, nicht technologische Probleme sind das schwerwiegendste Hindernis für breitere optogenetische Anwendungen. Am wichtigsten ist vielleicht, dass die Studie von Sahel und Kollegen Hoffnung gibt, weil sie zeigt, was für eine bemerkenswert leistungsfähige Korrelationsmaschine das Gehirn ist. Es kann lernen, praktisch jedes Signal zu verstehen (selbst die eher groben künstlichen visuellen Reize, die der Patient nach mehrwöchigem Training ‚sieht‘), solange diese Signale einen konsistenten kausalen Zusammenhang mit Ereignissen in der physischen Welt haben.“
„Ich habe keinen Interessenkonflikt.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Sahel JA et al. (2021): Partial recovery of visual function in a blind patient after optogenetic therapy. Nature Medicine. DOI: 10.1038/s41591-021-01351-4.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Beauchamp MS et al. (2020): Dynamic Stimulation of Visual Cortex Produces Form Vision in Sighted and Blind Humans. Cell; 181 (4): 774-483. DOI: 10.1016/j.cell.2020.04.033.
[2] Chen X et al. (2020): Shape perception via a high-channel-count neuroprosthesis in monkey visual cortex. Science; 370 (6521): 1191-1196. DOI: 10.1126/science.abd7435.
[3] Ganjawala TH et al. (2019): Improved CoChR Variants Restore Visual Acuityand Contrast Sensitivity in a Mouse Modelof Blindness under Ambient Light Conditions. Molecular Therapy; 27 (6): 1195-1205. DOI: 10.1016/j.ymthe.2019.04.002.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] ClinicalTrials.gov: Dose-escalation Study to Evaluate the Safety and Tolerability of GS030 in Subjects With Retinitis Pigmentosa (PIONEER).
[II] McClements ME et al. (2020): Optogenetic Gene Therapy for theDegenerate Retina: Recent Advances. Frontiers in Neuroscience; 14: 570909. DOI: 10.3389/fnins.2020.570909.
[III] GeneSight Biologics. Webseite des Unternehmens.
[IV] Lu Q et al. (2021): Optogenetic Strategies for Vision Restoration. Adv Exp Med Biol; 1293:545-555. DOI: 10.1007/978-981-15-8763-4_38.
[V] Gauvain G et al. (2021): Optogenetic therapy: high spatiotemporal resolution and pattern discrimination compatible with vision restoration in non-human primates. Communications Biology; 4: 125. DOI: 10.1038/s42003-020-01594-w.
[VI] ClinicalTrials.gov: BS01 in Patients With Retinitis Pigmentosa.
[VII] BioSpace (30.03.2021): First Four Patients In Bionic Sight’s Optogenetic Gene Therapy Trial Are Able To Detect Light And Motion. Pressemitteilung des Unternehmens.
[VIII] Ratner, M (2021): Light-activated genetic therapy to treat blindness enters clinic. Nature Biotechnology; 39, 126–127. DOI: 10.1038/s41587-021-00823-9.
Prof. Dr. Michael Schmid
Department für Neuro- und Bewegungswissenschaften, Fakultät für Naturwissenschaften und Medizin, Universität Freiburg, Schweiz
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe keinen Interessenkonflikt.“
Prof. Dr. Peter Hegemann
Hertie-Professor für Neurowissenschaften und Leiter der Arbeitsgruppe Experimentelle Biophysik, Humboldt-Universität zu Berlin
Prof. Dr. Zhuo-Hua Pan
Scientific Director, Ligon Research Center of Vision, Kresge Eye Institute and Department of Ophthalmology, Visual and Anatomical Sciences, Wayne State University School of Medicine, USA
Prof. Dr. Gero Miesenböck
Waynflete Professor of Physiology, Wellcome Investigator, University of Oxford, Vereinigtes Königreich