Pandemiepotenzial durch Mutation: Die Risiken von H5N1 in den USA
das hochpathogene Vogelgrippevirus H5N1 hat in den USA zuletzt mehrere Hundert Rinderherden und vereinzelt auch Menschen infiziert
in einer Laborstudie genügte nun eine einzelne Mutation, um die Bindung an menschliche Zellrezeptoren zu ermöglichen, weitere Veränderungen verstärkten die Bindung
Forschende betonen die Realitätsnähe der Untersuchung und plädieren abermals für eine strenge Überwachung des Erregers in den USA
Eine einzelne Mutation des in den USA unter Rindern grassierenden Vogelgrippevirus H5N1 könnte ausreichen, damit der Erreger deutlich leichter Menschen infizieren kann. Dies zeigt eine neue Studie im Fachjournal „Science“ (siehe Primärquelle). Sie unterstreicht das Risiko einer Zoonose.
Leiter der Arbeitsgruppe Influenzavirusforschung am Institut für Medizinische Virologie, Justus-Liebig-Universität Gießen
Aviäre versus humane Influenza-A-Viren
„Ein wesentlicher Punkt für die Infektion eines Wirtes mit einem Influenza-A-Virus (IAV) ist die Rezeptorspezifität des viralen HA-Proteins, mit dem das Virus an seine Zielzellen andockt. Aviäre IAV (aIAV) haben eine sogenannte Neu5Aca2-3Gal(alpha2,3)-Spezifität und humane IAV (hIAV) eine Neu5Aca2-6Gal(alpha2,6)-Spezifität. Diese Publikation zeigt, dass schon ein einziger Aminosäure-Austausch in einem HA-Protein aus einem H5N1-Stamm (aIAV), der aus der Kuh isoliert wurde, die Spezifität von alpha2,3 nach alpha2,6 ändern kann, und das weitere Änderungen dies noch verstärken können.“
Wahrscheinlichkeit der Mutationen
„Allerdings zeigen alle isolierten H5N1-aIAV bislang eine alpha2,3-Spezifität. Obwohl aufgrund der hohen genetischen Plastizität (Mutationsrate/Austausch von Gensegmenten) jederzeit (solche) Veränderungen auftreten können, ist ein Zusammentreffen von vielen weiteren Veränderungen nötig, um eine Änderung des Wirtstropismus (Affinität des Virus für einen Wirt; Anm. d. Red.) vom Vogel zum Menschen hervorzurufen. Dies wird auch in der Studie betont. Da diese Änderungen im eigentlichen Wirt (Vögel) aber meist keinen Vorteil für das aIAV darstellen, sammeln sich diese nicht so schnell an. Die Autoren haben für ihre HA-Bindungsstudien rekombinant exprimiertes HA-Protein verwendet, also keine kompletten Viren. Die Bindungsaffinitäten wurden mit definierten Molekülen der Rezeptordeterminanten durchgeführt. Also nicht mit lebenden Zellen. Daher sind Rückschlüsse auf eine produktive Infektion in Zellen nicht ohne Weiteres möglich. Allerdings zeigt die Studie, wie es die Autoren betonen, dass es nötig ist, die nicht eingedämmte H5N1-Ausbreitung in den USA intensiv zu überwachen.“
Leiter des Instituts für Virusdiagnostik (IVD), Friedrich-Loeffler-Institut, Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit, Greifswald-Insel Riems
Wahrscheinlichkeit der Mutationen
„Die Studie verwendet das HA-Protein eines bovinen hochpathogenen aviären Influenzavirus (HPAIV) H5N1 der Klade 2.3.4.4b aus Texas und verändert eine wichtige Aminosäure im HA-Protein, die bereits vorher als bedeutsam für eine Änderung der Rezeptorbindung bekannt war. Die Studie bestätigt Annahmen zur Möglichkeit des Rezeptorswitches vom aviären 2,3-verlinkten zum humanen 2,6-verlinkten Siacylsäure-Rezeptortyps. Durch eine zweite Mutation im HA kann dieser Switch noch verstärkt werden. Bei einem HPAIV-H5N1-Geflügelvirus der Klade 2.3.4.4b (Genotyp D1.1) sind in Kanada bei einem schwer erkrankten Jugendlichen nun ähnliche Anpassungen im HA berichtet worden, was die Praxisnähe der Studie belegt.“
„Die bisherigen Anpassungen von HPAIV-H5N1 der Klade 2.3.4.4b im Menschen waren ausschließlich auf die Polymerase (PB2) beschränkt und steigern die Replikationsfähigkeit im Säugetierwirt. Anpassungen an den humanen Rezeptor sind bei dieser Klade neu und bisher nur einmal berichtet worden (der besagte Jugendliche in Kanada). Zwei Anpassungen im HA scheinen dabei bereits auszureichen, um eine vollständige Anpassung zu ermöglichen. Dies erleichtert es den Viren, sich im Menschen zu vermehren. Trotzdem bleiben weitere Hürden wie die angeborene Immunität, die ebenfalls überwunden werden müsste. Und auch beim Fall in Kanada ist es trotz der insgesamt drei Mutationen nicht zur weiteren Übertragung gekommen. Insgesamt zeigen die Studie und auch der Fall in Kanada aber, dass solche Anpassungen im HA an den humanen Rezeptor möglich sind und bei der Überwachung und Risikoeinschätzung unbedingt beachtet werden müssen. Die Studie liefert hier eine wertvolle Ergänzung zu den Anpassungsmöglichkeiten von HPAIV-H5N1 der Klade 2.3.4.4b.2.“
Situation in den USA
„Die Situation in den USA mit der hohen Zahl an Fällen bei Wildvögeln, Geflügel und auch Rindern führt vermehrt zu Spill-Over-Infektionen beim Menschen. Um diese Zahl der humanen Infektionen zu reduzieren, sind unbedingt die Fälle bei Milchkühen und beim Geflügel so schnell und so gut wie möglich zu kontrollieren. Gerade beim Rind sollten hier deutlich mehr Anstrengungen unternommen werden. Menschen, die in infizierten Betrieben tätig sind, müssen unbedingt entsprechend geschützt werden. In allen Bereichen sind zudem engmaschige Früherkennungs- und Surveillance-Maßnahmen notwendig. Dazu gehören dann auch immer umfassende Testungen und Vollgenomsequenzierungen (Untersuchung des kompletten genetischen Materials des Virus; Anm. d. Red.).“
Forschungsgruppenleiter am Institut für Virologie, Universitätsklinikum Freiburg
Wahrscheinlichkeit der Mutationen
„In der Studie von Lin et al. wird untersucht, wie sich verschiedene Aminosäureaustausche in der Rezeptorbindungsdomäne (RBS) des H5-Hämagglutininproteins des H5N1-Erregers auf die Bindungsfähigkeit an menschliche Rezeptoren auswirken. In der Studie nehmen die Autoren verschiedene Modifikationen an der RBS des H5-Proteins vor, unter anderem einen Aminosäureaustausch an Position 226 (Glu226Leu), wie er bereits bei einem kürzlich von einem Jungen in British Columbia isolierten H5N1-Virus entdeckt wurde. Darüber hinaus untersuchen die Autoren den Einfluss weiterer bekannter Aminosäureaustausche anderer Hämagglutinine auf die Bindungsfähigkeit des H5-Proteins an humane Rezeptoren. Da alle diese Aminosäureaustausche entweder bereits bei H5N1-Erregern beobachtet wurden (Glu226Leu) oder als Anpassungsstrategien früherer Viren aus dem Vogelreich bekannt sind, handelt es sich um durchaus mögliche, ,naturnahe‘ oder bereits beobachtete Anpassungen des H5N1-Erregers an den Menschen.“
Limitationen der Studie
„Die vorliegende Studie untersucht die Rezeptorspezifität von H5N1-Hämagglutinin mithilfe künstlich hergestellter Zuckerreste. Obwohl diese Daten grundsätzlich sehr robust und zuverlässig sind, fehlen Infektionsdaten, um abschätzen zu können, inwieweit diese Aminosäureaustausche im H5-Hämagglutinin das Infektionspotenzial des H5N1-Erregers für den Menschen erhöhen. Dies ist umso wichtiger, da weitere virale Anpassungen für das Gefährdungspotenzial des Menschen entscheidend sind, wie die Koadaptation des N1-Neuraminidase-Proteins, dem Gegenspieler des H5-Proteins, sowie die Anpassung des H5-Proteins an den pH-Wert, der für die Übertragung zwischen Menschen wichtig ist. Diese beiden Aspekte wurden in der Studie nicht untersucht.“
Situation in den USA
„Das aktuelle Infektionsgeschehen in den USA macht eine engmaschige Überwachung von Virusisolaten aus Menschen und anderen Tieren unbedingt erforderlich. Nur so kann das Auftreten weiterer Mutationen, die das Gefährdungspotenzial für den Menschen erhöhen, frühzeitig erkannt werden. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die bevorstehende Grippewelle und die Möglichkeit einer genomischen Reassortierung (Austausch genetischer Information) zwischen H5N1-Viren und humanen Influenzaviren von Bedeutung. Es ist auch wichtig, die Infektionsketten bei Milchkühen zu stoppen, um dem H5N1-Virus keine Chance zu geben, sich dadurch indirekt an den Menschen anzupassen.“
Alle: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Lin TH et al. (2024): A single mutation in bovine influenza H5N1 hemagglutinin switches specificity to human receptors. Science. DOI: 10.1126/science.adt0180.
Weiterführende Recherchequellen
Science Media Center (2023): Vogelgrippe – eine verheerende Pandemie für Vögel und eine Bedrohung für die globale Gesundheit? Press Briefing. Stand: 10.02.2023.
Science Media Center (2024): Vogelgrippe in den USA – Virusentwicklung, Prävention und Therapie. Statements. Stand: 14.06.2024.
Science Media Center (2024): Vogelgrippe-Übertragung im Säugetiermodell. Statements. Stand: 08.07.2024.
Science Media Center (2024): Der Weg der Vogelgrippe in die Antarktis. Statements. Stand: 03.09.2024.
Prof. Dr. Stephan Pleschka
Leiter der Arbeitsgruppe Influenzavirusforschung am Institut für Medizinische Virologie, Justus-Liebig-Universität Gießen
Prof. Dr. Martin Beer
Leiter des Instituts für Virusdiagnostik (IVD), Friedrich-Loeffler-Institut, Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit, Greifswald-Insel Riems
Prof. Dr. Martin Schwemmle
Forschungsgruppenleiter am Institut für Virologie, Universitätsklinikum Freiburg