Psychische Erkrankungen verstehen: Grenzen und Potenziale der Diagnostik

Die Defizite aktueller Diagnosesysteme sind bekannt: Auf der einen Seite sind die Komorbiditätsraten hoch – die Mehrheit der Patientinnen und Patienten mit psychischen Erkrankungen erhält mindestens zwei Diagnosen [V]. Was die Frage aufwirft, ob tatsächlich unterschiedliche Störungsbilder vorliegen oder ob die diagnostischen Kategorien die klinische Realität unzureichend abbilden. Auf der anderen Seite zeigt sich innerhalb einzelner Diagnosen eine erhebliche Heterogenität. So gibt es im DSM-5 über 16.000 mögliche Symptomkonstellationen, die die Kriterien für eine Major Depression erfüllen, und über 600.000 Varianten für eine Posttraumatische Belastungsstörung [VI]. Behandlungsansätze sind jedoch überwiegend auf einzelne Diagnosen zugeschnitten, womit sie weder den Komorbiditäten noch der Heterogenität innerhalb der Diagnosegruppen gerecht werden. Umgekehrt treten viele Symptome – etwa depressive Verstimmungen – nicht nur bei einer Major Depression, sondern beispielsweise auch bei einer Bipolaren Störung oder Schizophrenie auf. Trotz der Überlappungen werden diese Erkrankungen unterschiedlich behandelt.

Zunehmende Evidenz zeigt außerdem, dass verschiedene biologische, psychologische und Umweltfaktoren – etwa genetische Einflüsse, strukturelle Veränderungen des Gehirns oder belastende Lebenserfahrungen – eine zentrale Rolle bei der Entstehung und dem Verlauf psychischer Erkrankungen spielen. Da diese Faktoren über Diagnosegrenzen hinweg auftreten, könnten sie ein wichtiger Ausgangspunkt für ein neues Verständnis psychischer Erkrankungen und ihrer Diagnose sein [I][II].

Alternative Ansätze – wie die „Research Domain Criteria“ (RDoC) und die „Hierarchical Taxonomy of Psychopathology“ (HiTOP) – betrachten psychische Erkrankungen über die bisherigen Diagnosegrenzen hinweg. Während RDoC psychische Störungen ausgehend von zugrundeliegenden neurobiologischen und psychologischen Prozessen beschreibt, konzentriert sich HiTOP auf die empirische Erfassung und Strukturierung von Symptommustern entlang hierarchischer Dimensionen [VII][VIII].

Das SMC befragte Expertinnen und Experten zu den Vor- und Nachteilen des aktuellen Diagnosesystems, zu alternativen Konzepten sowie zu den möglichen Herausforderungen und Konsequenzen einer Systemumstellung beziehungsweise -ergänzung.