Steigende Überlebensraten bei Extremfrühchen – zu welchem Preis?
die Überlebenschancen besonders frühgeborener Babys steigen, doch manche kämpfen später mit schweren Komplikationen
laut US-Studie erhalten zunehmend Kinder, die in der 22. Woche geboren werden, lebenserhaltende Maßnahmen
ethische Debatte: Wie viel technologische Unterstützung ist vertretbar, und welche Lebensqualität kann für diese Kinder langfristig gewährleistet werden?
Die Überlebenschancen besonders frühgeborener Babys steigen, doch manche kämpfen später mit schweren Komplikationen. Zu diesem Ergebnis kommt eine US-Studie, die im Fachjournal „Pediatrics“ erschienen ist (siehe Primärquelle). Die Forschenden analysierten die Daten von 22.953 extrem frühgeborenen Kindern, die zwischen 2020 und 2022 in Level-3- und Level-4-Neonatalstationen in den USA behandelt wurden – also in Kliniken mit umfassender Ausstattung für die intensivmedizinische Versorgung von Neugeborenen.
Direktor der Klinik für Neonatologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Behandlung von Extremfrühchen
„Die Daten dieser Studie zeigen, ähnlich wie eine Reihe vergleichbarer Studien, dass Frühgeborene mit sehr niedrigem Gestationsalter durchaus überleben können, aber zum Preis einer hohen Komplikationsrate. Ob ein Vorgehen in lebenserhaltender Absicht als ,Überbehandlung‘ oder als gerechtfertigt anzusehen ist, ist – weltweit – umstritten [1]; es muss umstritten sein und kann nur von Fall zu Fall im Rahmen eines gemeinsam von Eltern und Ärzten erarbeiteten und getragenen Entscheidungsfindungsprozesses eruiert werden. Für diese Entscheidungsfindung sind Ergebnisse, wie sie in dieser Studie zusammengestellt wurden, von großer Wichtigkeit, ausschlaggebend sind aber letztlich die Wertvorstellungen der Eltern und das, was sie für ihr Kind möchten. Die Entscheidung ist notgedrungen immer eine Stellvertreterentscheidung.“
Aussagekraft zu Langzeitprognosen
„In dieser Studie werden neben den Überlebensraten auch die Komplikationen während der stationären Behandlung aufgelistet. Man weiß aus anderen Untersuchungen, dass solche Komplikationen mit dem Risiko für bleibende neurologische Schäden assoziiert sind – je mehr und schwerwiegender die Komplikationen, desto höher die Rate an Zerebralparesen, kognitiven Beeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten im späteren Leben. Für das einzelne Kind muss das nicht unbedingt zutreffen – es gibt Frühgeborene ohne Komplikationen, die trotzdem später in ihrer Entwicklung erheblich beeinträchtigt sind, während andere Frühgeborene mit mehreren schweren Komplikationen später normal sind – aber für die Beurteilung der Ergebnisse in einem großen Kollektiv sind die Komplikationen ein guter Parameter.“
USA und Deutschland im Vergleich
„Bei uns wie in den USA fällt die Behandlung von solchen Extremfrühgeborenen in einen Graubereich, in dem die Meinungen sehr auseinandergehen, ob eine Behandlung in lebenserhaltender Absicht als sinnvoll erachtet wird oder ob nicht lieber von Anfang ein palliativer Weg eingeschlagen werden sollte. Beides ist vertretbar, aber die Entscheidung liegt letztlich bei den Eltern und spiegelt deren Werte- und Erwartungshorizont wider. Ärztliche Aufgabe ist es, über die Chancen und Risiken empathisch, aber klar und offen zu reden, um den Eltern eine informierte Entscheidung zu ermöglichen. Dieser Graubereich wird in verschiedenen Ländern allerdings unterschiedlich definiert [2] – in Deutschland umfasst er Kinder mit einer Schwangerschaftsdauer von 22 und 23 Wochen, im Einzelfall auch 24 Wochen, in Schweden nur Kinder mit einem Gestationsalter von 22 Wochen, in Österreich von 23 Wochen, in der Schweiz, Frankreich und den Niederlanden von 24 Wochen.“
Ethische Richtlinien
„Unter Federführung der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin (GNPI) haben eine Reihe von wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften (für Gynäkologie und Geburtshilfe, Kinder- und Jugendmedizin, Perinatalmedizin, Medizinethik), die Berufsverbände für Kinderkrankenpflege und Hebammen und der Bundesverband ,Das frühgeborene Kind‘ als Sprecher betroffener Eltern gemeinsam eine Leitlinie entwickelt, die über die Webseiten der GNPI und der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich-medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) kostenfrei abrufbar ist [3]. In diese Leitlinie gehen Untersuchungen wie die jetzt publizierte ein, wobei die neuen Ergebnisse sich von den bisher bekannten nicht wesentlich unterscheiden, sondern sie untermauern.“
Direktorin der Klinik für Kinderheilkunde I, Universitätsklinikum Essen, und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ)
Behandlung von Extremfrühchen
„Durch medizinische Fortschritte gab es in den vergangenen Jahren eine Anpassung an die verbesserten Überlebensraten. Die Beratung der Eltern sollte in Deutschland laut der Leitlinie erfolgen. Wie dort beschrieben, gehen unterschiedliche Faktoren wie das Gestationsalter, aber auch das Schätzgewicht in die Beratung ein. Sollten die Eltern trotz geringer Chancen eine Behandlung wünschen, ist es wichtig, das komplette uns zur Verfügung stehende Maßnahmenpaket auch zu initiieren, wie auch in der Studie bemerkt: Mit 22 Wochen hatte eine deutlich geringere Anzahl der Kinder eine antenatale (vorgeburtliche; Anm. d. Red.) Lungenreife, auch wurden nicht alle in einem Perinatalzentrum der höchsten Versorgungsstufe mit viel Erfahrung geboren.“
Ethische Richtlinien
„Bei extrem Frühgeborenen wird in jedem einzelnen Fall ausführlich diskutiert, es gibt diverse Faktoren, die im Sinne eines Shared Decision Making gemeinsam mit den Eltern in Betracht gezogen werden. Darüber definiert sich die sogenannte Grauzone. Zu den ganz unreifen Kindern gibt es bisher in Deutschland wenige Daten. In einer Untersuchung des German Neonatal Network (GNN) zeigt sich eine Verbesserung im Outcome, auch für die reiferen Kinder [4]. Insgesamt sind die Daten der meldenden Kliniken besser als in der Studie.“
Leiter des Fachbereiches Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin und Leiter des Projektes Feto-Neonataler-Pfad, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden, und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin (DGPM)
Behandlung von Extremfrühchen
„Jedes Kind hat das prinzipielle Recht auf eine medizinische Behandlung, diese kann an der Grenze der Überlebensfähigkeit mit einem kurativen oder auch palliativen Ziel erfolgen. Besteht der Wunsch der Eltern – als die maßgeblichen Interessenvertreter des Kindes – auf eine kurative Behandlung, und hat das Kind keine zusätzlichen Faktoren, die ein Überleben unwahrscheinlich erscheinen lassen (wie ein angeborener Herzfehler, der einer bei diesem Gewicht unmöglichen Operation bedarf oder eine schwere kindliche Infektion, die mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht überlebt werden kann), so ist der Beginn einer optimalen und vollumfänglichen postnatalen Lebensunterstützung auch nach einer Schwangerschaftsdauer von 22 Wochen absolut angebracht.“
„Dieses Vorgehen wird auch am Universitätsklinikum Dresden praktiziert. Eine wichtige Voraussetzung ist ein ausführliches Gespräch mit den Eltern, in dem beide Optionen, sowohl das kurative als auch das palliative Vorgehen, sowie die sich daraus ergebenden Risiken thematisiert werden. Außerdem werden die Eltern über die Chance informiert, das kurative Therapieziel bei einer massiven Verschlechterung des kindlichen Zustandes auch im weiteren Behandlungsverlauf in Richtung palliativer Betreuung zu wechseln, die medizinische Behandlung erfolgt also nicht, um jeden Preis‘.“
Aussagekraft zu Langzeitprognosen
„Neben den kurzfristigen Ergebnissen bezüglich der Überlebensrate spielen Daten zur langfristigen Entwicklung dieser Kinder eine wichtige Rolle. Leider beschränken sich die vorliegenden Untersuchungen auf den primären Krankenhausaufenthalt. Hier zeigt sich jedoch bereits, dass ein sehr großer Anteil der überlebenden Kinder Zeichen einer schweren Lungenerkrankung und deutliche Ernährungsprobleme hatte. Beide Faktoren sind bekannte Risiken für eine schlechte neurologische Langzeitentwicklung. Daher ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die untersuchten Kinder eher eine schlechte langfristige Prognose bezüglich der neurologischen und motorischen Entwicklung hatten. Neben den fehlenden objektiven Daten zur langfristigen Entwicklung sind aber insbesondere Informationen der Eltern, wie diese die Entwicklung ihres Kindes beurteilen, von Bedeutung.“
„In der vergangenen Dekade zeigte sich immer deutlicher, dass die langfristige Entwicklung maßgeblich durch sozioökonomische und psychosoziale Faktoren beeinflusst wird. Während ein niedriger sozioökonomischer Status der Eltern einen negativen Einfluss auf die neurologische Entwicklung (nicht nur zu früh geborener) Kinder hat, wirkt sich eine starke Eltern-Kind-Bindung sehr positiv auf die langfristige Entwicklung aus. Allerdings sind Programme, welche die Eltern von Frühgeborenen unterstützen, eine gute Bindung zu ihrem frühgeborenen Kind aufzubauen, noch immer nicht Bestandteil der Routineversorgung.“
USA und Deutschland im Vergleich
„Prinzipiell ähnelt das Vorgehen in Deutschland der Situation in den USA. Kinder, die nach 24 Schwangerschaftswochen zur Welt kommen und mehr als 400 Gramm wiegen, sollten eine kurative Behandlung erhalten. Diese Behandlung sollte bei Kindern mit einem Gestationsalter zwischen der 22. und 24. Schwangerschaftswoche nur nach sehr sorgfältiger Absprache und Zustimmung der Eltern erfolgen. Ein wichtiger Unterschied zwischen der Versorgung in Deutschland und USA ist die vorgeburtliche Betreuung. Verglichen mit den USA ist die Schwangerenbetreuung in Deutschland deutlich umfangreicher und intensiver. So haben in Deutschland deutlich mehr Mütter zum Zeitpunkt der Geburt ihres Kindes eine vollständige Lungenreifeinduktion erhalten. Daten aus anderen Studien zeigen zudem, dass die Wahrscheinlichkeit einer angeborenen kindlichen Infektion, die in diesen niedrigen Schwangerschaftswochen häufig zum Versterben der Kinder führen, in Deutschland deutlich niedriger ist.“
„Letztlich finden sich auch deutliche Unterschiede bezüglich der neonatologischen Behandlung dieser extrem unreifen Kinder. Im Ergebnis einer deutlich weniger invasiven Therapie in Deutschland, zeigen sich in Deutschland bessere Behandlungsergebnisse für extrem unreife Frühgeborene. So liegt die Rate der mit 24 Schwangerschaftswochen geborenen Kinder, die mit Sauerstoff entlassen werden, deutlich unter zehn Prozent; auch für die Anlage eines Gastrostomas (künstlich geschaffene Verbindung des Magens mit der Bauchdecke, über die eine Ernährungssonde angelegt werden kann; Anm. d. Red.) besteht sehr selten die Notwendigkeit. Ausdruck einer besseren Entwicklung sind auch die deutlich kürzeren Liegezeiten, so gehen in meiner Klinik Kinder mit 25 Schwangerschaftswochen im Schnitt 14 Tage eher nach Hause.“
Ethische Richtlinien
„In Deutschland ist unter Mitarbeit von Elternverbänden, den maßgeblichen wissenschaftlichen Fachgesellschaften und der Akademie für Ethik in der Medizin sowie Juristen eine Leitlinie erstellt worden, die Empfehlungen zum Vorgehen an der Grenze der Überlebensfähigkeit macht. Diese Leitlinie ist für die tägliche Praxis sehr hilfreich. Sie macht klar, dass jedes Kind Anspruch auf eine Behandlung hat und diese unabhängig von seinen Lebens- und Überlebensaussichten ist. Demnach ist es die ärztliche Aufgabe, unter Achtung der Würde des Patienten und seiner Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen oder wiederherzustellen sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen. Ärzte und Eltern sollen zu einer gemeinsam erarbeiteten und getragenen Entscheidung (,Shared Decision Making‘) kommen. In dem dafür notwendigen Dialog ist die Sachkompetenz bei den Ärzten, die Wertekompetenz vornehmlich bei den Eltern angesiedelt. Letztlich betont die Leitlinie auch, dass die Behandlungsziele an die aktuelle Situation angepasst werden sollten.“
Risiko von Komplikationen
„Die Behandlung von Kindern, die an der Grenze der Überlebensfähigkeit auf die Welt kommen, erfolgt in enger Absprache mit den Eltern; es herrscht das Prinzip der ,geteilten Entscheidungsfindung‘. Dabei werden – so gut es möglich ist – den Eltern Informationen zu Risiken, die mit dem jeweiligen Gestationsalter verbunden sind, mitgeteilt. Allerdings ist es in der klinischen Praxis schwierig, zuverlässige Informationen zur Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Komplikationen zu geben. So werden in den einzelnen Einrichtungen noch immer wenige Kinder in der jeweiligen Altersgruppe behandelt, die lokalen Erfahrungen sind daher gering. Im Vergleich verschiedener Einrichtungen zeigen sich große Unterschiede im Outcome. Diese resultieren nicht nur durch Variationen in der Behandlung, sondern auch durch Unterschiede in der jeweiligen Einstellung zur Behandlung extrem unreifer Kinder. Letztlich entwickelt sich die Medizin insbesondere in diesem Bereich sehr schnell weiter, damit sind die Überlebensdaten von vor fünf Jahren geborenen Kindern heute nicht mehr aktuell. Außerdem spielt der Umgang der Eltern mit ihrem Kind und die sozioökonomischen Verhältnisse der Familien eine wichtige Rolle. Hier besteht auch in Deutschland noch großes Optimierungspotenzial.“
„Befragungen in verschiedenen Berufsgruppen haben ergeben, dass im Vergleich von Patienten unterschiedlichen Alters mit gleicher Prognose bezüglich des Überlebens und identischem Risiko einer schweren Behinderung, die Frühgeborenen die schlechteste Chance haben, eine kurative Behandlung zu erhalten. In diesen Fallbeispielen hatten Kinder oder Jugendliche mit deutlich schlechterer langfristiger Prognose eine viel höhere Chance, eine kurative Behandlung zu erhalten. Oder mit anderen Worten: Frühgeborene haben derzeit keine besonders gute Lobby, sondern hier besteht viel eher die Bereitschaft, auf eine kurative Behandlung zu verzichten.“
„Ähnlich Diskussionen um das Vorgehen an der Grenze der Überlebensfähigkeit gab es immer wieder in der Geschichte der Neonatologie. Vor 30 bis 40 Jahren war es die Frage, ob es ethisch akzeptabel ist, Kinder mit weniger als 1000 Gramm Geburtsgewicht zu behandeln, da die Prognose sehr schlecht ist. Heute haben diese Kinder einen unproblematischen Verlauf nach der Geburt. Die Grenze lag dann 20 Jahre später bei 26 Wochen und ist jetzt auf 22 bis 24 Wochen verschoben worden. Ein wichtiges Ergebnis dieser Verschiebung der Grenzen war, dass die Kinder in der zuvor kritisch diskutierten Gruppe deutlich profitierten und im Anschluss ein besseres Outcome zeigten.“
Zusammenfassende Beurteilung
„Jedes Kind hat, unabhängig von dem Gestationsalter, ein Recht auf eine medizinische Behandlung. Fällt die Entscheidung für eine kurative Behandlung, so hat diese von allen Seiten optimal zu erfolgen, beginnend mit der Betreuung der Schwangeren, über einen optimalen Geburtsmodus bis hin zur neonatologischen Betreuung der Kinder und psychosozialen Unterstützung der Familien. Ähnlich den großen Anstrengungen der Gesellschaft den Krebs zu bekämpfen, sind auch gezielte Anstrengungen erforderlich, das Überleben der vulnerabelsten Mitglieder unserer Gesellschaft nicht nur zu sichern, sondern auch eine gute Qualität des Überlebens zu ermöglichen. Dafür sind ausreichend Gelder für die Forschung, die Bereitschaft der Industrie, Medikamente für Neugeborene zu entwickeln und eine stärkere Zentralisierung der Behandlung dieser Kinder erforderlich. Diese Anstrengungen sind eine Investition in die künftige Generation und lohnen sich auch finanziell. Der Nobelpreisträger James Heckman konnte zeigen, dass je früher im Leben die Investitionen beginnen, umso höher ist der Return of Invest.“
Leiter der Sektion Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
Behandlung von Extremfrühchen
„Es handelt sich hier um die biologische Grenze der Lebensfähigkeit im Sinne einer strukturellen (Lungen-)Unreife, das heißt, vor der 22.-24. Schwangerschaftswoche ist kein Gasaustausch und damit kein Überleben möglich, weil die Lunge anatomisch noch nicht ausreichend entwickelt ist. Deshalb sind auch Vergleiche mit früheren Zeiten unzulässig oder nur bedingt zutreffend, in denen es um die funktionelle Lungenunreife ging: In den 60er- und 70er-Jahren sind Frühgeborene oftmals am neonatalen Atemnotsyndrom ,erstickt‘ (berühmtestes Beispiel: der amerikanische Präsidentensohn Patrick Bouvier Kennedy), weil eine oberflächenaktive Substanz, die die Lungenbläschen ,offenhält‘, fehlt, also die Lunge physiologisch noch nicht einsatzbereit ist. Seit Einführung der sogenannten Surfactant-Substitutionstherapie in den 80er- und frühen 90er-Jahren wurde dann das Tor zur Behandlung und zum Überleben sehr kleiner Frühgeborener aufgestoßen. Einen solchen Vorstoß unter die 22. Schwangerschaftswoche wird es diesmal jedoch nicht geben, es sei denn, man würde sich einer ,künstlichen Plazenta‘, einer Art Herz-Lungen-Maschine für Feten, bedienen (solche Projekte werden zum Beispiel in den Niederlanden durchaus verfolgt). Deshalb zeigen auch alle vergleichbaren Untersuchungen seit vielen Jahren letztlich den gleichen Befund: Natürlich können bei einer proaktiven Behandlung mehr Kinder mit passablem Ergebnis überleben, als wenn man von vornherein auf lebenserhaltende Maßnahmen verzichtet. Jedoch wird dieser Erfolg mit einer hohen Rate an Morbidität bezahlt, die sich an der biologischen Grenze der Lebensfähigkeit sozusagen exponentiell zuspitzt (oder sich ihr asymptotisch annähert).”
Aussagekraft zu Langzeitprognosen
„Hinzu kommt die immer deutlicher werdende Unersetzlichkeit der intrauterinen Umwelt. Die Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit zeigen, dass die ,immer sanftere‘ Neonatologie nicht in dem Maße zu einer Abnahme von zum Beispiel bleibenden Lungenschäden (sogenannte bronchopulmonale Dysplasie, BPD) geführt hat, wie man sich eigentlich erhofft hatte. Zugleich wird immer deutlicher, dass Erwachsene mit Frühgeburtsanamnese, die inzwischen ein mittleres Lebensalter von 30-40 Jahren erreicht oder überschritten haben, auch dann unter erheblichen Problemen leiden können, wenn sie ohne größere somatische Schäden – also vermeintlich ,gesund‘ – überlebt haben. Als Ursache wird angenommen, dass der vorzeitige Übergang von der intrauterinen in die extrauterine Umwelt Auswirkungen hat, die sich auch durch die beste und sanfteste Therapie nicht vermeiden lassen. Dies bezieht sich neben inneren Organen wie der Lunge vor allem auf das Groß-(Hirn), welches seine Ausreifung im Wesentlichen erst jenseits der 22.-24. Schwangerschaftswoche erfährt. Auch unter diesem Aspekt stellt sich die (ethische) Frage, ob ein ,immer unreifer‘ wirklich erstrebenswert und vertretbar ist.”
Alle: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Edward EM et al. (2024): Survival of Infants Born at 22 to 25 Weeks’ Gestation Receiving Care in the NICU: 2020–2022. Pediatrics: DOI: 10.1542/peds.2024-065963.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Guillén Ú et al. (2024): Community Considerations for Aggressive Intensive Care Therapy for Infants <24+0 Weeks of Gestation. The Journal of Pediatrics. DOI: 10.1016/j.jpeds.2024.113948.
[2] Bührer C (2021): Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit. Monatsschrift Kinderheilkunde. DOI: 10.1007/s00112-021-01294-7.
[3] Bührer C et al. (2020): Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit. S2k-Leitlinie.
[4] Humberg A et al. (2020): Active perinatal care of preterm infants in the German Neonatal Network. Archives of Disease in Childhood - Fetal and Neonatal Edition. DOI: 10.1136/archdischild-2018-316770.
Prof. Dr. Christoph Bührer
Direktor der Klinik für Neonatologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Prof. Dr. Ursula Felderhoff-Müser
Direktorin der Klinik für Kinderheilkunde I, Universitätsklinikum Essen, und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ)
Prof. Dr. Mario Rüdiger
Leiter des Fachbereiches Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin und Leiter des Projektes Feto-Neonataler-Pfad, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden, und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin (DGPM)
Prof. Dr. Dominique Singer
Leiter der Sektion Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)