Studie: Geschlechterverhältnis bei Geschwistern nicht zufällig
bei Eltern, die bisher ausschließlich Mädchen oder Jungen bekommen haben, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass ein weiteres Kind ebenfalls dieses Geschlecht haben wird
Studie gibt Hinweis auf Eigenschaften der Mutter, die hinter dem nicht zufälligen Geschlechterverhältnis bei Geschwistern stehen könnten
Experten ordnen die Studie in den Diskurs ein und weisen darauf hin, dass die Zusammenhänge nicht kausal gezeigt werden konnten und Folgeuntersuchungen notwendig sind
Bestimmte genetische Eigenschaften sowie das Alter der Mutter könnten damit zusammenhängen, dass bei mehr als drei Kindern diese überzufällig häufig ausschließlich Jungen oder Mädchen sind. Zu diesem Ergebnis kam ein Forschungsteam der Universität Harvard, deren Studie im Fachjournal „Science Advances“ veröffentlicht wurde (siehe Primärquelle).
Das Geschlechterverhältnis ist in der Gesamtbevölkerung etwa ausgeglichen – mit einer leichten Tendenz zu mehr Geburten von Jungen [I]. Das Geschlecht eines Embryos wird dadurch bestimmt, ob die Eizelle durch ein Spermium mit einem X- (Mädchen) oder Y-Chromosom (Junge) befruchtet wird. Ob sich die befruchtete Eizelle jedoch weiterentwickelt und es zu der Geburt eines Kindes kommt, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab [II]. Manche Studien sprechen dafür, dass innerhalb kinderreicher Familien häufiger Kinder des gleichen Geschlechtes geboren werden, als bei einer rein zufälligen Verteilung [III]. Das legt die Vermutung nahe, dass sich bei manchen Frauen eher die männlichen Embryonen weiterentwickeln, bei anderen die weiblichen.
Leitender Wissenschaftler, Europäisches Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL), Heidelberg
Methodik und Aussagekraft der Studie
„Die Studie stützt sich auf ein sehr großes historisches Kollektiv von über 146.000 Schwangerschaften. Diese Datenbasis ermöglicht robuste statistische Analysen familienspezifischer Geschlechtsverteilungen und reduziert stichprobenbedingte Verzerrungen. Die methodische Umsetzung ist meiner Meinung nach solide, auch wenn Informationen zum Alter des biologischen Vaters nicht berücksichtigt werden konnten. Für die letztliche Validierung der Resultate der Studie sind zukünftig funktionelle oder mechanistische Studien erforderlich. Diese Studien sind in dem Zusammenhang sehr komplex. Beispielsweise könnte man in Tiermodellen untersuchen, welche Rolle bestimmte genetische Varianten im Hinblick auf das Geschlecht des Nachwuchses spielen. Alternativ ließen sich die von den Autoren aufgestellten Hypothesen – etwa der Einfluss des vaginalen pH-Werts – experimentell in Mausmodellen überprüfen, um deren Auswirkungen auf die Geschlechtsverteilung der Nachkommen zu evaluieren.“
Einordnung der Ergebnisse
„Der Gedanke, dass das Geschlecht von Nachkommen nicht rein zufällig verteilt ist, wurde bereits früher diskutiert [1] – die Kombination genetischer Marker mit maternalen Einflussgrößen wie Alter ist jedoch neuartig. Besonders die Identifikation spezifischer genetischer Eigenschaften (SNPs) – zum Beispiel NSUN6 und TSHZ1 – im Zusammenhang mit ausschließlich männlichen oder weiblichen Nachkommen ist interessant. Neuartig ist auch die statistische Evidenz für altersabhängige Geschlechtsdisposition, was frühere spekulative Beobachtungen empirisch untermauert.“
Mechanismen
„Die postulierten Mechanismen – insbesondere genetische Prädispositionen über SNPs – sind grundsätzlich plausibel, allerdings werden weiterführende Studien notwendig sein, um biologische Mechanismen dahinter funktionell aufzuklären. Die Rolle des maternalen Alters könnte über hormonelle oder zelluläre Mikroenvironment-Veränderungen – wie der des vaginalen pH-Wertes – wirken, die die Wahrscheinlichkeit für das Überleben bestimmter Embryotypen beeinflussen. Die Trennung von Alter und Genetik gestaltet sich jedoch generell als methodisch schwierig: Dasselbe Gen kann bei verschiedenen Individuen unterschiedliche phänotypische Effekte hervorrufen – abhängig von Umweltfaktoren wie Ernährung, Stress oder Exposition gegenüber bestimmten Substanzen. Genetische Disposition und Umwelt wirken dabei nicht isoliert, sondern interagieren und beeinflussen gemeinsam das beobachtbare Ergebnis. So liefert die Studie Hinweise, aber keine abschließende Trennung, dieser Einflüsse.“
Geschäftsführender Ärztlicher Direktor des Instituts für Humangenetik, Universitätsklinikum Heidelberg
Methodik und Aussagekraft der Studie
„Die Ergebnisse wären viel überzeugender, wenn sie in einer zweiten, unabhängigen Kohorte – zum Beispiel einer populationsbasierten Kohorte aus einem anderen Land – bestätigt worden wären. Dies würde ich für notwendig erachten, bevor wir hier weitere Schlüsse ziehen.“
Einordnung der Ergebnisse
„Tatsächlich beschäftigt sich die Medizin und Wissenschaft seit Jahrzehnten mit der Frage, welche Faktoren das Geschlecht der zukünftigen Kinder beeinflussen. Viel Aufmerksamkeit hat hierbei etwa die sogenannte Shettles-Methode erfahren. Sie besagt, dass männliche Spermien – also solche mit einem Y-Chromosom – schneller, aber empfindlicher sind, weibliche hingegen – also solche mit X-Chromosom – langsamer, aber widerstandsfähiger. Daraus wäre zu schließen, dass Geschlechtsverkehr in zeitlicher Nähe zum Eisprung eher zu einem Jungen führt, Geschlechtsverkehr zwei bis vier Tage vor dem Eisprung eher zu einem Mädchen. Auch diese Hypothese ist umstritten und die wissenschaftliche Evidenz alles andere als eindeutig.“
„Es ist unbedingt darauf hinzuweisen, dass die gefundenen genetischen Eigenschaften (SNPs) in Assoziation mit dem ein oder anderen Geschlecht keinen Hinweis auf funktionelle Zusammenhänge geben. Die genannten Gene könnten mit der Geschlechtswendigkeit der Kinder etwas zu tun haben, müssen dies aber nicht. Die kausal relevanten Faktoren könnten auch an ganz anderer Stelle im Genom zu finden sein. Es besteht lediglich ein statistischer Zusammenhang zwischen den entsprechenden genetischen Varianten und dem gehäuften Auftreten des einen oder anderen Geschlechts.“
Implikationen
„Für mich ergeben sich aus der Studie erstmal keine klinischen Konsequenzen. Allenfalls die Aufforderung an die wissenschaftliche Community, diese Ergebnisse an einer zweiten, unabhängigen Kohorte zu replizieren. Die klinische Relevanz ist aktuell noch nicht gegeben.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
Primärquelle
Wang S et al. (2015): Is sex at birth a biological coin toss? Insights from a longitudinal and GWAS analysis. Science Advances. DOI: 10.1126/sciadv.adu7402.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Astolfi P et al. (2001): Paternal HLA genotype and offspring sex ratio. Human Biology. DOI: 10.1353/hub.2001.0015.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Statistisches Bundesamt: Bevölkerung: Geburten. Stand: 17.07.2025.
[II] Orzack SH et al. (2015): The human sex ratio from conception to birth. Proceedings of the National Academy of Sciences. DOI: 10.1073/pnas.1416546112.
[III] Zietsch BP et al. (2020): No genetic contribution to variation in human offspring sex ratio: a total population study of 4.7 million births. Proceedings of the Royal Society B. DOI: 10.1098/rspb.2019.2849.
Dr. Jan Korbel
Leitender Wissenschaftler, Europäisches Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL), Heidelberg
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
Prof. Dr. Christian Schaaf
Geschäftsführender Ärztlicher Direktor des Instituts für Humangenetik, Universitätsklinikum Heidelberg
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“