Synthetische Embryonen aus menschlichen Stammzellen erzeugt
zwei Forschungsgruppen haben erstmals mit Stammzellen synthetische menschliche Embryonen erzeugt, die sich so weit wie nie zuvor in Kultur entwickeln
bisher gibt es dazu aber keine begutachtete wissenschaftliche Publikation, beide Gruppen präsentieren vorläufige Ergebnisse in Preprints
trotz großem Potenzial wirft derlei Forschung ethische und rechtliche Fragen auf
In den vergangenen Tagen machte ein Vortrag auf einer Konferenz in Boston Schlagzeilen: Ein Forschungsteam um die Entwicklungsbiologin Magdalena Zernicka-Goetz hat nach eigenen Angaben mithilfe von Stammzellen synthetische menschliche Embryonen geschaffen. Zuerst berichtete der britische „Guardian“ darüber [I]. Die Arbeit wurde demnach in einem Plenarvortrag am 14.06.2023 auf der Jahrestagung der International Society for Stem Cell Research von der Forscherin selbst erstmals erwähnt und mittlerweile auf der Preprint-Plattform bioRxiv veröffentlicht (siehe Primärquelle). Die synthetischen Embryonen, die den Embryonen in den frühesten Stadien der menschlichen Entwicklung ähneln sollen, könnten nach Ansicht der Forschenden einen entscheidenden Einblick in die Auswirkungen genetischer Störungen und die biologischen Ursachen wiederholter Fehlgeburten geben, heißt es. Allerdings gibt es bisher keine von unabhängigen Forschenden begutachteten Ergebnisse.
Direktor des Instituts für Humangenetik, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
„Am 10. Juni hörte ich auf der Tagung der European Society of Human Genetics in Glasgow einen Vortrag von Magdalena Zernicka-Goetz über menschliche Embryonen. Am Ende ihres Vortrags stellte sie einige unveröffentlichte Arbeiten über menschliche Embryonen vor, die sie in ihrem Labor aus Stammzellen gezüchtet hatte. Sie stellte die unveröffentlichten Daten vor, indem sie erklärte, dass sie genau dieselben Versuchsbedingungen wie bei ihren früheren ETiX-Embryonen von Mäusen verwendete, die sie letztes Jahr in ‚Nature‘ veröffentlicht hatte. In ihrem Vortrag betonte sie, dass sie für den menschlichen Embryo genau dieselben Kulturmedien und Werkzeuge verwendete wie für die im letzten Jahr veröffentlichten Mäuseembryonen. In den Daten, die sie auf dieser Tagung vorstellte, sprach sie nur über Embryonen, die sich bis zum achten Tag entwickelt hatten.“
„Sie zeigte, dass die Embryonen ein Amnion (Embryonalhülle; Anm. d. Red.) und ein Lumen (Vorläufer des Rückenmarkkanals und der flüssigkeitsgefüllten Räume des Gehirns; Anm. d. Red.) entwickeln. Sie nutzte auch die modernsten Technologien wie die Einzelzell-RNA-Sequenzierung, um die synthetischen Embryonen mit echten menschlichen Embryonen zu vergleichen. Die Daten zeigten, dass die aus Stammzellen gewonnenen Embryonen normalen menschlichen Embryonen extrem ähnlich waren. Sie stellte auch einige funktionelle Daten vor, die den ‚tissue-to-tissue-crosstalk‘ (Zell-Zell-Kommunikation verschiedener Gewebe; Anm. d. Red.) in sich entwickelnden menschlichen Embryonen untersuchen.“
„Soweit ich weiß, ist dies das erste Mal, dass jemand menschliche Embryonen mit diesem Ansatz erzeugt. Daher halte ich es für einen Durchbruch oder zumindest sehr neu.“
„Zu den Daten, die sie am Mittwoch auf der Jahrestagung der Internationalen Gesellschaft für Stammzellenforschung in Boston vorstellte, kann ich mich nicht äußern, da ich nicht über die erforderlichen Informationen verfüge. Soweit mir bekannt ist, wurde keine Vorabveröffentlichung vorgenommen.“
Leiter der Arbeitsgruppe „Mouse Embryology“, Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin, Münster
„Die Fortschritte in den Laboratorien von Magdalena Zernicka-Goetz und Jacob Hanna stellen experimentell einen großartigen Fortschritt dar, ich sehe allerdings die verwendete sprachliche Nomenklatur kritisch, bei der die kreierten embryonalen Strukturen als bloße ‚Modelle‘ der menschlichen Embryonalentwicklung bezeichnet werden. Ich vertrete hier als Mausbiologe eine konsequentialistische Sichtweise, wonach, wenn die Funktion der Entwicklung gegeben ist, diese Entität ein Embryo ist, und zwar unabhängig von seiner biologischen Herkunft.“
„Gerade weil in der derzeitigen Gesetzgebung nicht nur in Deutschland Embryonen als Entitäten betrachtet werden, die von Keimzellen wie Spermien und Eizellen abgeleitet sind, können die Laboratorien von Zernicka-Goetz und Hanna die nun kreierten Strukturen als ‚Modelle‘ bezeichnen. Insofern diese aber die frühe menschliche Entwicklung wie in den Experimenten beschriebenen Vorgänge rekapitulieren, sollten sie Embryonen genannt und nicht wie bloße Modelle behandelt werden – gerade auch im rechtlichen Sinne.“
„Meiner Einschätzung als Mausbiologe zufolge handelt es sich bei den inzwischen beschriebenen Entitäten sogar nicht mehr nur um Embryonen, sondern biologisch betrachtet letztlich um Klone. Was bei den Experimenten bei der Maus und nun erstmals auch beim Menschen geschieht, ist letztlich eine Renaissance des Klonens von menschlichen Embryonen. Diesmal müssen dafür allerdings keine Eizellen mehr für den Zellkerntransfer (Somatic Cell Nuclear Transfer, SCNT) verwendet werden.“
„Die Forschenden etablieren diese im Labor erstellten menschlichen Embryonen aus zuvor induzierten embryonalen Stammzellen (iPS), die letztlich aus Hautzellen eines Spenders stammen. Dabei können die drei iPS-Zelltypen der frühen Gewebe des Embryos natürlich genetisch von drei unterschiedlichen Individuen stammen, aber prinzipiell eben aber auch nur von einem. Sofern die Forschenden eine Linie von iPS-Zellen etablieren, die in alle drei Keimschichten eines Embryos überführt werden können, warum sollte man sich dann die Mühe machen, die iPS-Zellen von drei genetisch verschiedenen Individuen zu verwenden, wenn ein Individuum ausreichen kann?“
„Schaut man in konsequentialistischer Sichtweise auf das Entwicklungspotenzial, dann kann man für die Maus mit ihrer kurzen Entwicklungszeit vorhersagen, dass die Experimente von Jakob Hanna bei Mäusen in einigen Jahren über die frühe Organbildung hinaus erfolgreich sein könnten – und eine Entwicklung in vollem Umfang möglich wird. Am Ende könnten sogar ‚Babymäuse‘ aus stammzellbasierten Embryonen stehen. Wären diese nicht als Babymäuse zu betrachten, nur weil sie nicht aus Eizelle und Sperma entstanden sind?“
„Was das Entwicklungspotenzial der derzeit beschriebenen menschlichen Embryonen angeht, ist das natürlich aktuell noch sehr begrenzt, weil wir die biologischen Spielregeln kaum verstehen. Haupthindernis ist das Fehlen der Vorbereitungsphase zur Embryogenese, die auf natürliche Weise mit der Reifung der Eizellen und der Meiose stattfindet, wodurch die Embryonen derzeit vom Entwicklungspotenzial noch ‚schlechter‘ sind als die geklonten Embryonen der Vergangenheit.“
„Zumindest die traditionellen Klone wie das Klonschaf Dolly basierten auf einer meiotischen Zelle – der Eizelle, die den Zellkern einer Körperzelle empfangen hatte. Es war bei der Übertragung des Kerntransfers auf menschliche Eizellen schon immer schwierig, auf ethische Weise menschliche Eizellen für die Forschung zu erhalten. Das ist zum Glück bis heute so geblieben. Biologisch betrachtet sind aber die jetzt aus Stammzellen gewonnenen Embryonen ein radikaler Wendepunkt, weil erstmal in der Forschung keine Eizellen mehr benötigt werden, um menschliche Embryonen im Labor zur Entwicklung zu bringen.“
Auf die Frage, ob ein aus iPS-Zellen im Labor erzeugter menschlicher Embryo, so wie es Jacob Hannas Preprint nahelegt, auch in Deutschland mit seinem strengeren Embryonenschutzgesetz hergestellt werden könnte:
„Ich bin kein Jurist, sondern Mausembryologe. Ja, meines Wissens könnte ein solches Experiment auch in Deutschland zulässig sein. International ist derzeit die einzige Hürde, die noch besteht, der nach den Richtlinien der internationalen Gesellschaft für Stammzellbiologie (ISSCR-Richtlinien) untersagte Transfer der entstanden embryonalen Entitäten in die Gebärmutter einer Empfängerin. In der Vergangenheit bestand für die Forschenden hier allerdings die zusätzliche biologische Hürde darin, sich menschliche Eizellen für den Zellkerntransfer beschaffen zu müssen. Bei den aktuellen Experimenten mit induzierten Stammzellen werden nun keine Eizellen mehr benötigt. Das ist ethisch riskant, denn es macht künftige unethische Handlungen und Experimente deutlich einfacher. Es müssen also neue Spielregeln auch für die Grundlagenforschung her.“
Professor für Ethik und Recht in den Lebenswissenschaften und Direktor des Centre for Ethics and Law in the Life Sciences (CELLS), Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
„Insgesamt kann man bei diesen – vorläufigen – Veröffentlichungen durchaus von einem wissenschaftlichen Durchbruch sprechen. Forschungszusammenhänge in der regenerativen Medizin, der Fortpflanzungsmedizin und der Entwicklungsbiologie werden erheblich von Professorin Zernicka-Goetz‘ Arbeit profitieren. Darüber hinaus wird die Diskussion um diese Art der Embryonenherstellung auch den rechtlichen und ethischen Rahmen in Deutschland, und darüber hinaus, vor eine neue Herausforderung stellen: Sind synthetische Embryonen weniger schutzwürdig als zum Beispiel überzählige Embryonen aus einer Kinderwunschbehandlung? Wir werden uns da noch einmal gesellschaftlich neu orientieren müssen.“
„Der gesetzliche Rahmen in Deutschland ist mit Bezug auf Embryonen insgesamt schon länger massiv reformbedürftig. Das Embryonenschutzgesetz hält schon seit Jahrzehnten nicht mit der Wissenschaft Schritt und so überrascht es nicht, dass es auch in diesem Fall keinerlei Beitrag leistet – es ist schlicht nicht einschlägig, weil es nicht in der Lage ist, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu antizipieren. Auch kann man es nicht einfach im Zusammenhang mit der neuen Technologie umdeuten. Es gehört vollständig ersetzt durch ein neues, zeitgemäßes Gesetz, das verantwortungsbewusste Forschung befördern und gesellschaftliche Grenzen flexibel ausflaggen kann.“
„Ganz wesentlich für eine abschließende rechtliche Bewertung wird die Frage sein, aus welchem Ausgangsmaterial diese Embryonen hergestellt wurden. Ist schon das Ausgangsmaterial eine embryonale Stammzelle, dann ist das Stammzellgesetz grundsätzlich anwendbar – eine Einfuhr und Verwendung der Zellen wären nur in sehr engen Grenzen für die Forschung zulässig. Auch hier wird es eine Fachdebatte darüber geben, ob die derzeitige Gesetzgebung im Stande ist, wissenschaftliche Innovationen vernünftig zu adressieren – oder, ob eine andere Art der Regulierung nötig ist.“
„Die 14-Tage-Regel ist der Versuch, die Entwicklung eines menschlichen Embryos in zwei Phasen zu teilen, die moralisch und rechtlich unterschiedlich bewertet werden können: Vor der Entwicklung des primitiven Streifens um Tag 14 herum ist unklar, ob sich der Embryo zu einem Lebewesen entwickelt oder zu Mehrlingen. Daran geknüpft ist die Frage, ob es sich um eine potenzielle zukünftige Person oder mehrere handelt, und erst dann haben wir eine Kategorie, die sich normativ gut erfassen lässt. Bisher ist eine Kultivierung über diesen Zeitpunkt hinaus technisch problematisch und aus den genannten Gründen auch in der Regel abzulehnen. Gleichzeitig könnte eine Kultivierung von Embryonen über Tag 14 hinaus wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse bringen, die uns zu der Entwicklung von besseren Methoden der Kinderwunschbehandlung und einem besseren Verständnis über Entwicklungsstörungen während der Schwangerschaft verhelfen könnten. Auch die ISSCR-Richtlinie lässt diese Tür einen Spalt weit offen – es ist zu hoffen, dass die neuen Arbeiten der Diskussion in diesem Zusammenhang neue Impulse liefern.“
Dieses Statement entstand in Zusammenarbeit mit:
Sara Röttger
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for Ethics and Law in the Life Sciences (CELLS) und im Sonderforschungsbereich 127, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Leiter der Arbeitsgruppe Stembryogenese, Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (CBG)
„Die Ähnlichkeit mit dem natürlichen Embryo ist bemerkenswert, fast unheimlich. Um die menschlichen embryonalen Stammzellen zu den embryoähnlichen Strukturen zu entwickeln, war eine umfassende Optimierung der Stammzellkulturprotokolle erforderlich, um einen Zellzustand zu erreichen, der den Vorläufern der frühesten embryonalen und extraembryonalen Zelllinien am ähnlichsten ist. Dies war der wichtigste Fortschritt, zusammen mit einer sehr sorgfältigen Analyse der exakten Kulturbedingungen, die kontinuierliches Wachstum und Entwicklung der embryoähnlichen Strukturen ermöglichen. Es ist beeindruckend zu sehen, wie mehr als ein Jahrzehnt sehr grundlegender Forschung, die sich auf die äußerst sorgfältige Zerlegung des Zustands menschlicher pluripotenter Stammzellen konzentrierte, zu diesem Ergebnis führt.”
„Eine einzigartige Leistung der Arbeit von Hanna (auch im Vergleich zum Preprint von Zernicka-Goetz) besteht darin, dass sie die Bildung der embryoähnlichen Strukturen erreicht haben, ohne sich auf Transgene verlassen zu müssen (wie es zuvor im ETiX-Ansatz der Gruppe um Zernicka-Goetz geschehen war). In der Tat scheint es bei ihnen (viel) besser zu funktionieren, die pluripotenten Stammzellen mit chemischen Cocktails in den richtigen Zustand zu bringen als mit Transgenen, die eher ein Vorschlaghammer sind, um den ‚richtigen‘ Zustand zu erzwingen. Es ist faszinierend, wie die menschlichen embryonalen Stammzellen – sobald sie in einen Zustand gebracht wurden, der den frühesten embryonalen und extraembryonalen Zellzuständen sehr ähnlich ist – die Fähigkeit erlangen, sich selbst in Strukturen zu organisieren, die den Embryo nachahmen – ohne dass eine zusätzliche chemische Modulation erforderlich ist.”
„Allerdings sollte auch betont werden, dass das Protokoll, mit dem diese Stammzellensembles in embryoähnliche Strukturen gebracht werden, sehr stark auf früheren Protokollen zur Entwicklung von Modellen der Entwicklung von Mäuseembryonen in den Labors von Magdalena Zernicka-Goetz und Nicolas Rivron basiert, die beide Pioniere auf dem Gebiet der Modellierung der Prä-, Peri- und frühen Post-Implantationsentwicklung sind. In gewisser Weise ist es schön zu sehen, wie die Arbeit des Hanna-Labors eine perfekte Synergie aus mehr als einem Jahrzehnt sehr sorgfältiger Arbeit an der grundlegenden Stammzellbiologie und wegweisende Arbeit an der Modellierung des Säugetierembryos in vitro (Stembryogenese, wie wir sie in unserem Labor nennen [1]) darstellt.”
„Die Ähnlichkeit in Bezug auf die zelluläre Zusammensetzung, Architektur und Organisation ist unglaublich. Viele wichtige Meilensteine der frühen menschlichen Postimplantationsentwicklung werden rekapituliert. Es ist jedoch bemerkenswert, dass die embryoähnlichen Strukturen aufgrund der Art des Protokolls beziehungsweise des Entstehungsprozesses nicht die frühesten Entwicklungsstadien durchlaufen. Insbesondere durchlaufen sie nicht das Blastozystenstadium – das Stadium, in dem sich der natürliche Embryo in die Gebärmutter einnistet. Inwieweit sich dies auf das Entwicklungspotenzial der embryoähnlichen Strukturen auswirkt, also die Fähigkeit, einen gesunden, voll ausgebildeten Fötus hervorzubringen, bleibt unklar, ist aber angesichts der derzeitigen ethischen, rechtlichen und – möglicherweise – technischen Zwänge schwer zu überprüfen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem natürlichen Embryo nur bei etwa drei Prozent der Strukturen erreicht wird, und selbst innerhalb dieser drei Prozent gibt es im Vergleich zum Embryo viel mehr Variation. Um das volle Potenzial dieser embryoähnlichen Strukturen auszuschöpfen, ist es entscheidend, die Reproduzierbarkeit und Effizienz zu verbessern. Dies gilt insbesondere, wenn man die embryoähnlichen Strukturen zum Beispiel für Toxizitätstests an Embryonen verwenden will. Es ist auch anzumerken, dass sich die Autoren sehr stark auf die Ähnlichkeiten konzentriert haben und nicht im Detail auf die Unterschiede zwischen dem Embryo und seinem Modell eingegangen sind.”
„Die Autoren kultivierten die embryoähnlichen Strukturen nicht über das Äquivalent eines 14 Tage alten menschlichen Embryos hinaus – was in ihrem Protokoll etwa dem 8. Tag entspricht. Es ist jedoch nicht klar, ob dies technisch nicht machbar war oder ob die Autoren ihre Experimente aus ethischen Erwägungen absichtlich abgebrochen haben. Angesichts des Status der circa drei Prozent erfolgreichen Strukturen sehe ich keinen Grund, warum diese sich nicht weiterentwickeln könnten. Es sollte jedoch betont werden, dass es sich um ein Modell handelt. Die Strukturen können beispielsweise nicht in eine Gebärmutter eingepflanzt werden, da sie das Einpflanzungsstadium (Blastozyste) ‚überspringen‘. Inwieweit sich die Strukturen in Abwesenheit der mütterlichen Umgebung richtig entwickeln könnten, bleibt wichtig zu untersuchen, denn nur dies gibt Aufschluss über das Entwicklungspotenzial und damit darüber, inwieweit der moralische Status der embryoähnlichen Struktur als dem Embryo ähnlich angesehen werden sollte. Dies lässt sich nur durch einen direkten Vergleich mit dem menschlichen Embryo in vivo klären, was eine Ausweitung der 14-Tage-Regel erfordern würde. Ich denke, dass dies von Fall zu Fall vertretbar ist. Derzeit bleibt das eine Blackbox, was nach dem 14. Tag geschieht, wenn der Embryo beginnt, die Anlagen für zukünftige Organe aufzubauen. Es ist von entscheidender Bedeutung, einen Einblick in diese Phase zu bekommen, um zum Beispiel zu verstehen, warum viele Schwangerschaften in diesen Stadien scheitern. Embryoähnliche Strukturen, wie sie das Hanna-Labor entwickelt hat, bieten hierfür eine einzigartige Möglichkeit, aber es ist wichtig, sowohl die Ähnlichkeiten als auch die Unterschiede zwischen dem Embryo und seinem Modell zu verstehen.”
Post-Doc am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung, Universität Wien, Österreich
„Bei beiden Manuskripten beziehungsweise Preprints, die noch nicht durch einen Peer-Review-Prozess gegangen sind, fällt mir die Rahmung oder Framing als ‚stammzelleninduzierte Embryonenmodelle‘ auf.”
„Beide Gruppen diskutieren ihre Arbeiten als das Erarbeiten eines Modells, das die frühe Entwicklung von menschlichen Embryonen untersuchbar machen soll. Sie begründen den Mehrwert ihrer jeweiligen Modelle – und die Notwendigkeit für eben solche – im Umstand, dass wir sehr wenig über die Phase der frühen embryonalen Entwicklung wissen. Damit argumentieren beide, dass diese neuen Modelle die embryonale Entwicklung untersuchbar machen, ohne aber selbst Embryonen zu sein.”
„Bemerkenswert scheint mir dabei insbesondere, dass die Hanna-Gruppe in ihrem Preprint argumentiert, dass die Grenzen unseres Wissens auch an forschungsethischen Bestimmungen respektive Begrenzungen liegen. Damit scheinen sie zu suggerieren, dass stammzelleninduzierte Embryonenmodelle zwar in der Lage sind, menschliche Embryonen zu repräsentieren, ethisch aber anders zu bewerten sind, weil sie selbst keine Embryonen sind. Sie scheinen zu suggerieren, dass Arbeiten mit stammzellinduzierten Embryonenmodellen eine ethische Alternative zur Forschung an Embryonen sein könnten. Aus der Sicht der Gruppe ist das eine nachvollziehbare Position. Ich denke aber, dass es vorschnell wäre, diese Positionierung zu einer allgemeingültigen Einordnung mit der Forschung an und mit diesen neuartigen Objekten zu machen.”
Auf die Frage, ob die internationale ISSCR-Richtlinie mit der 14-Tage-Regel überholt werden sollte:
„Auch hier möchte ich als Sozialwissenschaftlerin keine Beurteilung des technischen State of the Art machen. Das Wort ‚derzeit‘in der aktuellen Formulierung scheint aber zentral zu sein. Viele Entwicklungen in den vergangenen Jahren wurden durch Verbesserungen der Kultivierung ermöglicht. Als Gesellschaften brauchen wir einen Umgang mit biomedizinischem Fortschritt, der berücksichtigt, dass technische Möglichkeiten eben keine stabilen Konstanten sind.”
Auf die Frage, wo die Grenzen bei der Anzucht dieser synthetischen Embryos liegen sollten:
„Zunächst denke ich, dass das eine Frage ist, die breit diskutiert werden sollte. Meine eigene Position dazu ist, dass Arbeiten mit stammzelleninduzierten Embryonenmodellen reguliert werden sollten – unabhängig davon, ob sie in öffentlichen oder privat finanzierten Laboren stattfinden.”
„Ich denke, Großbritannien hat am Wechsel von den 1980er zu den 1990er Jahren einen guten Weg eingeschlagen, als sie mit der Human Fertilization and Embryology Authority eine eigene Behörde aufgebaut haben, die Forschungsarbeiten an Embryonen begutachtet. Ich denke, dieses Modell könnte ein guter Ausgangspunkt für Diskussionen über mögliche Regulierungen von Arbeiten mit stammzellinduzierten Embryonenmodellen sein.”
Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, Internationales Privatrecht und Recht, Universität Mannheim, und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Biomedizin der Universitäten Heidelberg und Mannheim
„Forschung mit Embryonen ist wichtig als Grundlagenforschung und vor allem zur Erlangung von Kenntnissen über Entwicklungsstörungen, die beim geborenen Menschen zu bisher nicht behandelbaren Krankheiten führen. Die in den Preprints diskutierten Experimente sind ein kleiner Schritt, um den Zielen dieser Forschung ein wenig näher zu kommen.“
„In Deutschland ist die Herstellung artifizieller embryoähnlicher Strukturen nicht verboten. Vom Embryonenschutzgesetz werden sie nicht erfasst. Aus ihnen kann sich niemals ein geborener Mensch entwickeln. Deshalb wird auch im Ausland zu Recht dafür plädiert, die dort zum Teil geltende 14-Tages-Regel nicht auf sie anzuwenden.“
„Ihre Herstellung unterliegt allerdings in Deutschland strengen Vorschriften, soweit sie aus menschlichen embryonalen Stammzellen entwickelt wurden. Denn dann sind alle Vorgaben des Stammzellgesetzes zu erfüllen, unter anderem eine staatliche Genehmigung nach einer Stellungnahme der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellforschung. Induzierte pluripotente Stammzellen (iPS) und daraus abgeleitete Entitäten dagegen sind nicht vom Stammzellgesetz erfasst.“
„Auch dann, wenn die erzeugten embryoähnlichen Strukturen voll entwicklungsfähig wären, wäre das Embryonenschutzgesetz in der aktuellen Fassung nicht einschlägig, weil sie nicht durch Befruchtung (und übrigens auch nicht durch Klonieren) entstanden wären.“
Abteilung für Stammzell- und Entwicklungsbiologie, Icahn School of Medicine at Mount Sinai, Vereinigte Staaten
„Die Arbeiten der beiden Forschungsgruppen sind beeindruckend und stellen einen wichtigen Durchbruch in der Stammzellforschung dar. Der Fortschritt von der Maus zum Menschen ist wahrscheinlich auf eine Kombination von verbesserten Techniken in der Zellkultur und einem tieferen Verständnis der menschlichen Embryogenese zurückzuführen. Diese Erkenntnisse ermöglichen es den Forschern, Bedingungen zu schaffen, die die natürliche Entwicklung eines menschlichen Embryos im Labor effektiv nachahmen.“
„Bei der Herstellung dieser künstlichen Embryonen spielen verschiedene Techniken und Materialien eine Rolle. Transgenes Material kann eine wichtige Rolle spielen, da es genutzt werden kann, um spezifische Gene zu überexprimieren oder zu unterdrücken, was die Entwicklung und Differenzierung der Zellen beeinflussen kann. Dies ermöglicht es den Forschern, das Verhalten und die Entwicklung der Zellen gezielt zu steuern.“
„Es gibt zwar Unterschiede zwischen synthetischen Embryonen und durch Befruchtung entstandenen Embryonen, doch die Forschung zeigt, dass die synthetischen Embryonen viele der Schlüsselmerkmale von natürlich entstandenen Embryonen aufweisen. Sie durchlaufen ähnliche Entwicklungsstadien und zeigen ähnliche Zelltypen. Allerdings ist es wichtig zu beachten, dass sie trotz aller Ähnlichkeiten nicht identisch sind und weiterhin Unterschiede in der Genexpression und Entwicklung aufweisen können.“
„Die regulatorische Situation ist in der Tat eine Herausforderung. Die Fortschritte in dieser Forschung könnten eine Neubewertung der bestehenden Regulierungen erfordern. Die ISSCR-Richtlinie, die eine Kultivierung von mehr als 14 Tagen zu rechtfertigen versucht, könnte unter dem Druck dieser neuen Forschungsergebnisse aktualisiert werden müssen. Die wissenschaftlichen Ziele, die eine längere Kultivierung rechtfertigen könnten, sind vielfältig. Sie könnten das Verständnis der frühen menschlichen Entwicklung verbessern, die Forschung zu Geburtsfehlern und Fehlgeburten voranbringen und neue Therapien für Unfruchtbarkeit ermöglichen. Allerdings müssen diese Ziele sorgfältig gegen die ethischen Bedenken abgewogen werden, die sich aus der Verwendung und Kultivierung von synthetischen menschlichen Embryonen ergeben.“
„Partner in der Rechtsanwaltskanzlei Lawford Davies & Co.“
„Mitglied im Bioethics Advisory Panel der Merck KGaA; Mitglied des Merck Stem Cell Research Overview Committee (SCROC) der Merck KGaA; Mitglied des Medical Advisory Board der CompuGroup Medical AG“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquellen
[a] Weatherbee BAT at al. (2023): Transgene directed induction of a stem cell-derived human embryo model. bioRxiv. DOI: 10.1101/2023.06.15.545082.
[b] Oldak B et al. (2023): Transgene-Free Ex Utero Derivation of A Human Post-Implantation Embryo Model Solely from Genetically Unmodified Naive PSCs. bioRxiv. DOI: 10.1101/2023.06.14.544922.
Hinweis der Redaktion: Es handelt sich hierbei um Vorabpublikationen, die noch keinem Peer-Review-Verfahren unterzogen und damit noch nicht von unabhängigen Experten und Expertinnen begutachtet wurden.
Weiterführende Recherchequellen
Science Media Center (2023): Künstlicher Embryo aus Affen-Stammzellen. Research in Context. Stand: 06.04.2023.
Science Media Center (2022): Synthetischer Embryo entwickelt Organe. Research in Context. Stand: 25.08.2022.
Science Media Center (2018): Ethik und Recht bei Embryonenmodellen aus Stammzellen. Research in Context. Stand: 12.12.2018.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Veenvliet JV (2021): Sculpting with stem cells: how models of embryo development take shape. Development. DOI: 10.1242/dev.192914.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Devlin H (14.06.2023): Synthetic human embryos created in groundbreaking advance. The Guardian.
[II] Amadei G et al. (2022): Synthetic embryos complete gastrulation to neurulation and organogenesis. Nature. DOI: 10.1038/s41586-022-05246-3.
[III] AI Z et al. (2023): Dissecting peri-implantation development using cultured human embryos and embryo-like assembloids. bioRxiv. DOI: 10.1101/2023.06.15.545180.
Hinweis der Redaktion: Es handelt sich hierbei um eine Vorabpublikation, die noch keinem Peer-Review-Verfahren unterzogen und damit noch nicht von unabhängigen Experten und Expertinnen begutachtet wurde.
[IV] Science Media Center (2021): Internationale Leitlinien weiten Anzucht von Embryonenmodellen aus Stammzellen aus. Research in Context. Stand: 26.05.2021.
[V] Pereira Daoud AM et al. (2020): Modelling human embryogenesis: embryo-like structures spark ethical and policy debate. Human Reproduction Update. DOI: 10.1093/humupd/dmaa027.
[VI] Pereira Daoud AM et al. (2021): The closer the knit, the tighter the fit: conceptual and ethical issues of human embryo modelling. RBMO. DOI: 10.1016/j.rbmo.2021.08.031.
Prof. Dr. Malte Spielmann
Direktor des Instituts für Humangenetik, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
PD Dr. Michele Boiani
Leiter der Arbeitsgruppe „Mouse Embryology“, Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin, Münster
Prof. Dr. Nils Hoppe
Professor für Ethik und Recht in den Lebenswissenschaften und Direktor des Centre for Ethics and Law in the Life Sciences (CELLS), Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Partner in der Rechtsanwaltskanzlei Lawford Davies & Co.“
Dr. Jesse Veenvliet
Leiter der Arbeitsgruppe Stembryogenese, Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (CBG)
Dr. Ingrid Metzler
Post-Doc am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung, Universität Wien, Österreich
Prof. Dr. Jochen Taupitz
Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, Internationales Privatrecht und Recht, Universität Mannheim, und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Biomedizin der Universitäten Heidelberg und Mannheim
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Mitglied im Bioethics Advisory Panel der Merck KGaA; Mitglied des Merck Stem Cell Research Overview Committee (SCROC) der Merck KGaA; Mitglied des Medical Advisory Board der CompuGroup Medical AG“
Prof. Dr. Thomas Zwaka
Abteilung für Stammzell- und Entwicklungsbiologie, Icahn School of Medicine at Mount Sinai, Vereinigte Staaten