Tiktok-Videos zur ADHS: Bewertung und Wirkung
von knapp 100 der beliebtesten Tiktok-Videos zur ADHS beinhalten ungefähr die Hälfte fehlerhafte Informationen
Studie verdeutlicht, dass soziale Medien keine ausreichende Informationsquelle für psychische Erkrankungen sind
unabhängige Expertinnen äußern sich besorgt über Ergebnisse, erklären die Zusammenhänge und geben Empfehlungen, wie man sich besser zu dem Thema informieren kann
Populäre Tiktok-Videos zum Thema Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zeigen gravierende Defizite, was die inhaltliche Korrektheit zu Symptomen und Behandlungsansätzen angeht. Gerade Jugendliche mit selbstdiagnostizierter ADHS überschätzen die Verbreitung der Störung in der Bevölkerung und werden durch diese Videos in ihrer Annahme bestärkt, ADHS zu haben. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Studie, die im Fachjournal „Plos One“ veröffentlicht wurde (siehe Primärquelle).
Kommunikationswissenschaftlerin und Gastprofessorin an der Universität Augsburg, und Akademische Rätin auf Zeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München
Einordnung der Ergebnisse
„Ich finde es wenig überraschend, dass junge Erwachsene die Videos anders beurteilen als das psychologische Personal. Aus einer patientenzentrierten Perspektive gibt es eben neben der Korrektheit der Informationen noch andere Beurteilungskriterien für gesundheitsbezogene Inhalte, so etwa die Verständlichkeit [1]. Positiv stimmt mich, dass die jungen Erwachsenen die Inhalte durchaus kritisch reflektieren und Videos, die von den Expert:innen negativ beurteilt wurden, ebenfalls schlechter bewerten.“
„Besorgniserregend finde ich, dass in den Tiktok-Videos viele und zum Teil falsche Symptome angesprochen, aber kaum Hinweise zum Umgang mit ADHS gegeben werden. Um den hohen Informationsbedarf von Betroffenen zu decken, müssen fundierte Inhalte leicht zugänglich sein. Ich schließe mich daher dem Fazit der Forschenden an, dass auch auf Plattformen wie Tiktok Kommunikation durch professionelles Gesundheitspersonal wünschenswert wäre. So können die Informationen dort verfügbar gemacht werden, wo sich die jungen Erwachsenen in ihrem Mediennutzungsalltag aufhalten.“
Praktische Implikationen
„Da die Versorgungslage schlecht ist und Menschen sehr lange auf eine ADHS-Diagnose durch medizinisches Personal warten müssen, ist es nicht verwunderlich, dass sie sich um eine Selbstdiagnose bemühen. Betroffenen würde ich raten, auf verschiedene Quellen zurückzugreifen, um sich über ADHS zu informieren. Während die Videos von anderen Nutzenden auf sozialen Medien ein Gefühl von Gemeinschaft erzeugen und (Selbst)-Stigmata abbauen können, liefern tiefergehende Informationen auf geprüften Plattformen wie gesundheitsinformation.de eine gute Wissensbasis. Eine tatsächliche Diagnose kann jedoch nur durch Personen mit der entsprechenden Qualifikation erfolgen.“
Assistenzprofessorin für Unterhaltungsforschung, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien, Österreich
Beurteilung der Studienmethodik
„Die Präregistrierung ist im Sinne von Open Science positiv zu erwähnen, da sie die Planung und Durchführung der Studie im Vorfeld transparent macht. Die Selektion der Videos ist hingegen nicht repräsentativ, da sie nicht aus der Grundgesamtheit der verfügbaren Tiktok-Videos gezogen wurde. Die gewählte Methode, die 100 beliebtesten Videos zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einem neu erstellten Account auszuwählen, ist daher nicht ideal. Unter den Gegebenheiten ist es eine forschungspragmatische, aber dennoch legitime Vorgehensweise. Insgesamt bleibt die Anzahl der analysierten Videos verhältnismäßig gering. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass Tiktok-Nutzer*innen oft viele Videos konsumieren. Ein weiterer kritischer Punkt ist, dass keine Informationen zum Coder-Training (Schulung der bewertenden Personen; Anm. d. Red.) vorliegen und eine Bewertung der Inter-Coder-Reliabilität für alle gewählten Variablen fehlt. Dies entspricht nicht dem typischen Standard für kommunikationswissenschaftliche Studien, ist allerdings in Studien außerhalb des Fachs nicht ungewöhnlich.“
Einordnung der Ergebnisse
„Besonders hervorzuheben ist, dass der Großteil der Videos (93,9 Prozent) ausschließlich Symptome thematisiert, während nur die wenigsten Videos auf Behandlungsmöglichkeiten eingehen. Sozialen Medien sind, vor allem wenn es um Gesundheitsthemen geht, eine zentrale Informationsquelle und ein Ort für Austausch. Gleichzeitig werden durch die Algorithmen vor allem jene Posts, die für viel Interaktion sorgen, da sie besonders unterhaltsam sind oder emotionalisieren, bevorzugt. Daher ist die Tatsache, dass die Symptome nicht korrekt oder überzeichnet dargestellt werden, nicht weiter überraschend – ähnliche Befunde gibt es bereits bei anderen Krankheitsbildern, etwa dem Tourette-Syndrom, Epicondylitis (Sehnenansatzentzündung am Ellenbogen; Anm. d. Red.) oder Prostatakrebs. Auf Tiktok werden ADHS-Betroffene oft als quirlig, liebenswert und fast schon unterhaltsam dargestellt – eine ,süße Störung‘, die in kurzen, humorvollen Clips inszeniert wird. Viele Inhalte zeigen Alltagssituationen und setzen dabei auf Selbstironie und unterhaltsame Narrative. Dadurch entsteht ein positives, manchmal auch verharmlosendes, romantisierendes Bild der Erkrankung. Besonders interessant ist auch, dass die Expert*innen rund zwei Drittel der ADHS-relevanten Aussagen als normale menschliche Erfahrungen einstuften. In anderen Worten: Es werden Alltagssituationen gezeigt, mit denen sich viele Menschen identifizieren können, was Selbstdiagnosen begünstigen kann.“
„Diese Darstellung lässt sich unter anderem dadurch erklären, dass die Content Creator meist monetäre Interessen verfolgen, wie die Studie auch aufzeigt. Die Hälfte aller Content Creator bewirbt Produkte auf ihren Profilen oder bittet um finanzielle Zuweisungen. Dabei sind Sponsorings oder Marketing-Kooperationen nicht eingerechnet. Selbstverständlich haben die Influencer ein Interesse daran, dass ihre Videos von Vielen gesehen und als persönlich relevant eingestuft werden.“
Auf die Frage, wie sich die Ergebnisse über den Zusammenhang zwischen ADHS-Selbstdiagnose, dem Ausmaß des ADHS-Video-Konsums und der Wahrnehmung der Prävalenz von ADHS erklären lassen:
„Häufig konsumierte ADHS-bezogene Inhalte ziehen verstärkt Aufmerksamkeit auf sich und lenken den Fokus auf entsprechende Symptome. Durch Priming (verbesserte Verarbeitung eines Reizes, dadurch dass dieser oder ein ähnlicher zuvor präsentiert wurde; Anm. d. Red.) werden kognitive Schemata aktiviert, die dazu führen können, dass sich Menschen eher mit diesen Symptomen identifizieren. Langfristig verstärkt die wiederholte Exposition den Eindruck, dass ADHS besonders weit verbreitet ist, selbst wenn die tatsächliche Prävalenz geringer ausfällt. Da die Videos oft allgemeingültige Erlebnisse als pathologische Symptome inszenieren, identifizieren sich die Betroffenen eher mit dem Krankheitsbild. Es kommt zu einem sogenannten ,confirmation bias‘: Das bedeutet, dass Menschen dazu neigen, Informationen so zu interpretieren, zu suchen und zu erinnern, dass sie ihre bestehenden Überzeugungen oder Hypothesen bestätigen. Das passt auch zusammen mit dem Befund der Studie, dass Teilnehmer*innen mit Selbstdiagnose die ADHS-Prävalenz in der Gesamtbevölkerung deutlich überschätzen – weit mehr als jene mit formaler ADHS-Diagnose und jene ohne ADHS. Ebenso stufen sie Videos mit den niedrigsten psychologischen Ratings tendenziell als empfehlenswerter ein.“
Praktische Implikationen
„Wer bereits den Verdacht hat ADHS zu haben, nimmt durch die Videos verstärkt passende Symptome wahr und interpretiert sie als Bestätigung. Dadurch kann sich der Glaube an die eigene Diagnose verfestigen, ohne dass eine professionelle Abklärung erfolgt. Der ständige Konsum solcher Inhalte kann zur Überidentifikation führen: Alltägliche Schwierigkeiten werden dann möglicherweise vorschnell als Symptome interpretiert. Ich würde daher empfehlen, sich kritisch mit der Informationsquelle auseinanderzusetzen und eine professionelle Diagnostik in Betracht zu ziehen.“
Übertragbarkeit der Situation auf Deutschland
„Es ist schwer zu beurteilen, inwiefern eine ähnliche Situation in Deutschland besteht, da uns valide Daten zur Mediennutzung und regionalen Verbreitung solcher Videos fehlen. Allerdings wissen wir, dass auch in Deutschland viele internationale Videos von sogenannten ,Gesundheitsinfluencern‘ konsumiert werden. Die Algorithmen können dazu führen, dass ADHS-Inhalte aus den USA auch in Deutschland stark rezipiert werden.“
Professorin für Medienpsychologie/Kommunikationswissenschaft, Universität Hohenheim
Beurteilung der Studienmethodik
„Die Kombination von Inhaltsanalyse und Befragung der User ist sinnvoll und begründet. Für das medizinische und psychologische Fachpublikum ist vor allem die erste Studie relevant und interessant, da diese auf die enorme Reichweite der Videos hinweist und darauf, in welchem Umfang Expertise bezüglich psychischer Krankheiten in sozialen Medien anzutreffen ist.“
„Die zweite Studie bleibt in ihrer Operationalisierung und statistischen Analyse recht einfach. Im Artikel werden einleitend Konsequenzen falsch diagnostizierter Krankheiten auf Psychoedukation dargestellt, diese werden jedoch nicht gemessen. Es wird in der Befragung nur erhoben, wie viel Tiktok genutzt wird, wie viele ADHS-Inhalte auf Tiktok rezipiert werden und wie diese bewertet werden. Das ist jedoch nicht aufschlussreich bezüglich der Fragen, die auch im Artikel gestellt werden: Wie wirkt ADHS-Content auf Lernen und Wissen, also Psychoedukation?“
„Unsere eigenen, noch nicht publizierten, Studien zeigen: Menschen lernen mit Tiktok über psychische Erkrankungen. Wir haben Experimente durchgeführt und können sagen: Die Inhalte zum Thema Angststörungen tragen signifikant zum Wissenserwerb bei. Es ist also wichtig, dass gehandelt wird.“
Einordnung der Ergebnisse
„Die Studie zeigt für ein breites Fachpublikum die große Relevanz des Formates Tiktok auf. Das relevanteste Ergebnis ist also die Publikation der Studie und ihre öffentliche Wahrnehmung.“
„Es werden zu diesen Fragen zu Tiktok und anderen sozialen Medien seit Jahren Studien in der Kommunikationswissenschaft durchgeführt, die jedoch in der Medizin und Psychologie kaum wahrgenommen werden. Es ist den Autoren hoch anzurechnen, dass sie zwei kommunikationswissenschaftliche Quellen eingebracht haben [2] [3].“
„Es ist unerlässlich, dass wir bei diesem wichtigen Thema interdisziplinär arbeiten. Die Expertise der Kommunikationswissenschaft zum Lernen und zur Wahrnehmung sozialer Medien sollte in Studien dieser Art eingehen, damit der Kontext Tiktok auch aus dieser Perspektive verstanden und die langjährige Forschung zur Wirkung der Formate einbezogen wird.“
Auf die Frage, wie sich die Ergebnisse über den Zusammenhang zwischen ADHS-Selbstdiagnose, dem Ausmaß des ADHS-Video-Konsums und der Wahrnehmung der Prävalenz von ADHS erklären lassen:
„Diese Ergebnisse sollten nicht zu weitreichenden Interpretationen oder gar einer Psychologisierung führen. Es wurde schlicht und einfach gefunden, dass Menschen, die mit ADHS diagnostiziert werden, mehr Inhalte zum Thema rezipieren und diese auch eher weiterempfehlen. Das ist ein völlig normales und sinnvolles Verhalten. Alle Menschen rezipieren Inhalte, die in ihrem Leben eine Rolle spielen. Angler schauen Anglervideos, Menschen mit Husten googeln die Symptome. Auch wurde gefunden, dass Menschen, die mehr Tiktok nutzen, mehr ADHS-Inhalte schauen. Dieses Ergebnis ist ebenfalls nicht verwunderlich. Mehr Screen-Time bedeutet regulär, dass mehr Inhalte der interessierenden Themenbereiche konsumiert werden.“
Praktische Implikationen
„Ich möchte nicht den Usern, sondern den Berufs- und Fachverbänden etwas raten: Nicht nur auf Tiktok finden wir unglaublich viel Falschinformation zu ADHS. Auch der Buchmarkt und Youtube sind überschwemmt von Ratgebern, die von Life-Coaches oder Psychologiestudierenden mit ausgeprägten pekuniären (finanziellen; Anm. d.Red.) Interessen verfasst sind. In der Mehrzahl Personen, die keinerlei Expertise oder Erfahrung haben. Fachverbände und Berufsverbände der Medizin und Psychologie dürfen nicht so schüchtern sein, die qualitativ vertretbaren oder sogar hochwertigen Inhalte zu empfehlen. Wir können nicht stillhalten und dann meckern, dass sich Betroffene ihre Inhalte auf Tiktok oder Amazon selbst suchen.“
Übertragbarkeit der Situation auf Deutschland
„Nachdem wir in Deutschland gesehen haben, wie Narzissmus und Depression auf sozialen Medien rauf- und runter exerziert wurden, ist nun ADHS dran. Es ist wichtig, dass Betroffene schnell und einfach identifizierbare Informationen finden, die kostenlos oder kostengünstig zur Verfügung stehen. Psychologische und medizinische Berufs- und Fachverbände müssen aus der Deckung kommen, Mittel und Ressourcen bereitstellen, um in Zeiten des erheblichen Therapiemangels Menschen mit Informationen zu versorgen.“
„Keine Interessenkonflikte.“
„Es bestehen keinerlei Interessenkonflikte.“
„Keine.“
Primärquelle
Karasavva V et al. (2025): A double-edged hashtag: Evaluation of #ADHD-related Tiktok content and its associations with perceptions of ADHD. Plos One. DOI: 10.1371/journal. Pone.0319335.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Agrawal S et al. (2021): An evaluation of the quality of online information on emergency contraception. The European Journal of Contraception & Reproductive Health Care. DOI: 10.1080/13625187.2021.1887476.
[2] Leveille AD (2024): “Tell me you have ADHD without telling me you have ADHD”: neurodivergent identity performance on TikTok. Social Media + Society. DOI: 10.1177/2056305124126926.
[3] Arriagada A et al. (2020): “You need at least one picture daily, if not, you’re dead”: content creators and platform evolution in the social media ecology. Social Media + Society. DOI: 10.1177/2056305120944624.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] DGKJP, DGPPN und DGSPJ (02.05.2017): Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. S3-Leitlinie. AWMF-Registernummer 028-045.
[II] Marco Z et al. (2021): Tiktok and public health: a proposed research agenda: BMJ Global Health. DOI: 10.1136/bmjgh-2021-007648.
[III] Aragon-Guevara D et al. (2023): The Reach and Accuracy of Information on Autism on Tiktok. Journal of Autism and Developmental Disorders. DOI: 10.1007/s10803-023-06084-6.
Dr. Paula Stehr
Kommunikationswissenschaftlerin und Gastprofessorin an der Universität Augsburg, und Akademische Rätin auf Zeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Keine Interessenkonflikte.“
Prof. Dr. Kathrin Karsay
Assistenzprofessorin für Unterhaltungsforschung, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Universität Wien, Österreich
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Es bestehen keinerlei Interessenkonflikte.“
Prof. Dr. Sabine Trepte
Professorin für Medienpsychologie/Kommunikationswissenschaft, Universität Hohenheim
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Keine.“