UN veröffentlicht neue Bevölkerungsprojektion
Nahrungsmittelsicherheit, Energieversorgung, Gesundheitssystem – um in Zukunft benötigte Infrastruktur planen zu können, sind Bevölkerungsprojektionen hilfreich. Mit ihnen kann für verschiedene Annahmen abgeschätzt werden, wie viele Menschen in den kommenden Jahrzehnten in welchen Regionen der Erde leben werden. In diesem Jahr veröffentlichen gleich zwei bedeutende Institutionen ihre neuen Berechnungen – basierend auf aktualisierten Datengrundlagen und teils veränderter Methodik.
Am 11.07.2024 zum World Population Day hat die UN ein Update ihrer „World Population Prospects“ herausgegeben. Anfang des Jahres hat bereits das Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital eine neue, dritte Version ihrer Projektionen veröffentlicht.
Interessant sind vor allem die Unterschiede zwischen aktueller und vorangegangener Version: Wo werden in Zukunft mehr Menschen erwartet als bisher angenommen? Wo sind es weniger? Wie hängen die Veränderungen mit den getroffenen Annahmen bezüglich der Einflussgrößen – Geburtenraten, Sterblichkeit und Migration – zusammen?
Dieser Datenreport zeigt am Beispiel der neuen UN-Daten, wie sich die Projektionen verändert haben, in welchen Kontinenten und Ländern die Unterschiede besonders groß sind und worauf Journalistinnen und Journalisten bei der Interpretation von Bevölkerungsprojektionen achten sollten.
Die bereits veröffentlichten Bevölkerungsprojektionen der UN und des Wittgenstein Centres haben wir in einem Dashboard gesammelt. Dort können die Entwicklungen einzelner Länder mithilfe einer Benutzeroberfläche angezeigt werden. Die neu veröffentlichten Daten der UN integrieren wir ebenfalls in das Dashboard.
Die UN veröffentlicht alle zwei Jahre eine neue Projektion der globalen Bevölkerung, die letzte Veröffentlichung stammt also von 2022. Wie die UN methodisch vorgeht, kann man in ihrem Methodology Report von 2022 nachlesen. Die nun veröffentlichten Daten beruhen auf dem Referenzjahr 2023. Für Deutschland sind die aktuellen Daten aus dem Zensus also noch nicht berücksichtigt, die angenommene Startpopulation liegt damit also rund 1,4 Mio. Personen zu hoch.
In der aktuellen globalen Bevölkerungsprojektion der UN wird die zukünftige Weltbevölkerung konstant geringer geschätzt als noch in der Version von 2022. Die Projektion zeigt weiterhin einen Bevölkerungspeak in den 2080er-Jahren auf. Die Abweichung ist also vergleichsweise klein: Zu keinem Zeitpunkt beträgt die Differenz zwischen den beiden Projektionen mehr als 200 Millionen Menschen.
Die Projektionen der UN und des Wittgenstein Centres haben sich dieses Jahr angenähert: Die UN korrigierte ihre Schätzung nach unten, das Wittgenstein Centre nach oben. Beide Institutionen gehen in ihrem mittleren Szenario jetzt von einem Bevölkerungspeak von über 10 Milliarden Menschen aus.
Die farbigen senkrechten Linien zeigen die Zeitpunkte, an denen die jeweilige Projektion ihren Höchststand erreicht.
Bevölkerungsprojektionen basieren auf drei Einflussgrößen: Geburtenrate, Sterblichkeit und Migration. Wie sich diese Faktoren in Zukunft entwickeln werden, lässt sich nicht sicher vorhersagen. Deshalb arbeiten seriöse Institute mit mehreren Szenarien, die unterschiedliche mögliche Zukünfte abbilden sollen.
Die UN berechnet Bevölkerungswerte für verschiedene Szenarien, die unterschiedliche Annahmen zu Geburtenrate, Sterblichkeit und Migration miteinander kombinieren. Im Szenario Medium werden die Annahmen für plausible mittlere Entwicklungen genutzt. Es ist damit das Szenario, das üblicherweise betrachtet wird.
Die anderen Szenarien können aber dabei helfen, den Einfluss der zugrundeliegenden Parameter und damit die zugrundeliegende Unsicherheit abzuschätzen. Den Einfluss der Fertilität auf die Bevölkerungsprojektion zeigen beispielsweise die Szenarien Low Fertility und High Fertility. Die Annahmen zur Sterblichkeit und Migration bleiben dafür konstant, die Fertilität liegt aber in den ersten fünf Jahren der Projektion 0,25 Geburten unter beziehungsweise über dem Medium-Szenario, in den anschließenden fünf Jahren beträgt die Differenz 0,4 Geburten und ab diesem Zeitpunkt 0,5 Geburten.
Eine Darstellung der verschiedenen Szenarien zeigt: Die Änderungen zwischen dem Medium-Szenario der aktuellen zur 2022er Version ist deutlich geringer als zwischen den unterschiedlichen Szenarien aus dem Jahr 2022. (Für 2024 liegt bislang nur das Medium-Szenario vor.) Für die Interpretation muss aber beachtet werden, dass die Szenarien mit niedriger oder hoher Fertilität aus heutiger Sicht weniger plausibel sind. Auch wenn der Unterschied zwischen den Medium-Szenarien klein wirkt, können relevante Veränderungen dahinterstehen.
Wenn neue Bevölkerungsprojektionen veröffentlicht werden – wie Anfang des Jahres vom Wittgenstein Centre und jetzt von der UN – sind die Unterschiede zur vorangegangenen Projektion besonders interessant.
Um genauere Aussagen treffen zu können, lohnt es sich, geographisch reinzuzoomen und Differenzen zwischen den Projektionen zu bilden: Auf welche Kontinente sind die Veränderungen hauptsächlich zurückzuführen? Welche Länder zeigen interessante Abweichungen?
Die Unterschiede der globalen Bevölkerungsprojektion zwischen der neuen Version und der vorherigen Projektion lassen sich zu einem Großteil durch die Veränderung in Afrika und Asien erklären, wo die Zahl der erwarteten Menschen deutlich nach unten korrigiert wurde. Auch Lateinamerika und die Karibik tragen zu der Entwicklung bei. Nordamerika wurde als einziger Kontinent deutlich nach oben korrigiert. In Europa und Ozeanien sind die Abweichungen zur Projektion von 2022 gering.
Dass die Bevölkerungsprojektion für Afrika nach unten korrigiert wurde, bedeutet allerdings nicht, dass die Bevölkerung auf dem Kontinent nun abnimmt. Die Veränderung zwischen den Szenarien und die Entwicklung der Bevölkerung dürfen hier nicht verwechselt werden. Die Bevölkerung in Afrika steigt beispielsweise in den kommenden Jahrzehnten auch in der neuen Revision noch stark an.
Um einzelne Länder zu identifizieren, deren Projektion sich im Vergleich zur letzten Version deutlich geändert haben, können Scatterplots helfen. Auf der Y-Achse ist hier die Veränderung der projizierten Bevölkerung im Jahr 2050 zu sehen, auf der X-Achse die Bevölkerungsgröße der Länder auf einer logarithmischen Skala. Große Länder erscheinen also weiter rechts, kleine weiter links.
Besonders große Abweichung nach oben zeigen beispielsweise Äthiopien, Südafrika, Jemen und Bangladesch. Weniger Menschen als bisher werden im mittleren UN-Szenario im Jahr 2050 in den Ländern Niger, Nigeria, Philippinen und China erwartet.
Oft wird eine geänderte Projektion durch veränderte Annahmen zur Fertilität beeinflusst. In China ist die Fertilität in den vergangenen Jahren weiter gesunken. Dadurch wird auch für die neue Projektion von einer niedrigeren Fertilitätsrate ausgegangen.
Das Beispiel von China zeigt, dass eine leicht abweichende Fertilität auf die Bevölkerungszahlen der nächsten Jahrzehnte keine großen Auswirkungen hat, dass sich für die fernere Zukunft aber große Veränderungen der Bevölkerungszahlen ergeben können. Denn der Effekt verstärkt sich mit voranschreitender Zeit selbst: Bei einer niedrigeren Fertilität werden weniger Kinder geboren, die dann – wenn sie älter sind – ebenfalls weniger Kinder bekommen als in der vorherigen Projektion. Bis zum Ende des Jahrhunderts würden so in dieser Projektion gut 130 Millionen Menschen weniger in China erwartet.
Das Beispiel zeigt auch ein Problem mit solchen Projektionen: Einflussparameter wie die Fertilität haben sich in der Vergangenheit nicht gleichbleibend verändert, vielmehr gab es Sprünge und kurzfristige Trendwenden. Da solche Ereignisse für die Zukunft nicht vorhergesehen werden können, wird oft ein homogener Trend angenommen. Er ist meist eine Mischung aus der Entwicklung der jüngeren Vergangenheit und allgemeinen Überlegungen. Hier wird beispielsweise ein leichtes Ansteigen auf einem sehr niedrigen Niveau der Fertilitätsraten angenommen.
Das Beispiel Nigeria zeigt – analog zu China – ebenfalls eine Korrektur der Bevölkerungsprojektion nach unten. Im Unterschied zu China wurden hier in den neuen Daten auch die Werte der Fertilitätsrate für die Vergangenheit nach unten korrigiert. Dies ist ein typisches Beispiel dafür, dass die Parameter selbst für Zeitpunkte in der Vergangenheit mit einer Unsicherheit behaftet sind und immer wieder korrigiert werden. Dies gilt besonders stark für Länder mit einem weniger entwickelten Meldewesen, in denen viele Daten geschätzt werden müssen. Der jüngste Zensus in Deutschland zeigt aber, dass auch in Ländern mit starkem Meldewesen immer wieder Daten korrigiert werden müssen.
Am Beispiel Russland zeigt sich, wie aktuelle politische Ereignisse in die Bevölkerungsprojektionen mit eingehen und so auch Einfluss auf die projizierten Bevölkerungszahlen in 70 Jahren haben.
Hier lässt sich die nun höher prognostizierte Bevölkerung nicht durch eine höhere Geburtenrate erklären. Diese liegt sogar niedriger als in der alten Projektion.
Relevant ist in diesem Falle eine andere Einflussgröße: Die Nettomigration in das Land, also die Differenz zwischen Zugewanderten und Abgewanderten. Die vorangegangene Bevölkerungsprojektion der UN wurde im Jahr 2022 veröffentlicht – das Jahr, in dem der russische Angriffskrieg auf die Ukraine begann. Die Nettomigration nach Russland wurde in der Projektion von 2022 auf ein niedriges Niveau knapp über Null geschätzt. In der aktuellen Projektion ist hingegen zu erkennen, dass die UN von einer Nettomigration ausgeht, die auf dem Niveau der Jahre von 2003 bis 2021 liegt.
Der Einflussparameter der Migration ist noch einmal deutlich volatiler als die Fertilitätsrate – das zeigt ein Blick auf die Werte der Vergangenheit. Migrationsbewegungen werden besonders stark und besonders schnell von politischen Entscheidungen und Ereignissen beeinflusst. Dies macht Projektionen für die Zukunft sehr schwierig. Für die Veröffentlichung der aktuellen Daten hat die UN nicht nur ihre Annahmen, sondern auch die Methodik zur Abschätzung der zukünftigen Migration verändert.
Den Code für diesen Data Report stellen wir hier zur Verfügung. Neben Standard R-Paketen wird ein eigenes Paket verwendet, das hier bereitgestellt wird. Die Daten des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital können über ihren Data Explorer abgerufen werden. Die Daten der UN sind über die UN Population Division verfügbar.
Wenn Sie Fragen zu diesen Daten haben oder weitere Auswertungen erhalten wollen, kann das SMC Lab Auswertungen erzeugen.
Redaktion
Veronika Fritz, Redakteurin für Energie und Mobilität
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Datenauswertung
Simon Essink
Lars Koppers
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