Warum Menschen die Größe von Minderheiten überschätzen
allgemeine psychologische Muster erklären laut Studie Fehleinschätzung des Bevölkerungsanteils von Minderheiten fast vollständig
auf spezifische Minderheiten bezogene Faktoren wie die Anzahl von Sozialkontakten oder ein Bedrohungsgefühl erklären nur einen kleinen Teil der Schätzfehler
unabhängige Experten bewerten Studienmethodik positiv und halten Ergebnis für plausibel
In Befragungen wird der Anteil von Minderheiten an der Gesamtbevölkerung regelmäßig stark überschätzt, der Anteil der Mehrheit dagegen unterschätzt. Bislang wurde dies oft entweder darauf zurückgeführt, dass Befragte Minderheiten als Bedrohung wahrnähmen oder die Anzahl der Sozialkontakte wurde für die Erklärung genutzt, wobei mehr direkte oder indirekte Kontakte (zum Beispiel über Berichte in den Medien) zu einem höheren geschätzten Anteil führen sollten. Diesen Hypothesen widerspricht in der Fachzeitschrift „PNAS“ ein US-Forschungsteam (siehe Primärquelle). Demnach sei vor allem das allgemeine psychologische Muster, kleine Anteile zu über- und große zu unterschätzen, ausschlaggebend für die oft beobachtete Fehleinschätzung.
Professor für Soziale Kognition, Ruhr-Universität Bochum
Kernaussage der Studie
„Das Paper befasst sich mit der Frage, warum Menschen die Größe von Minderheiten regelmäßig überschätzen und die Größe von Mehrheiten unterschätzen. Dieses Phänomen wird in der Sozialpsychologie oft durch motivationale Theorien erklärt. Die beziehen sich auf den Eindruck von Menschen gegenüber spezifischen Gruppen, zum Beispiel: Weil sich Menschen von Einwanderern bedroht fühlen, überschätzen sie deren Anzahl.“
„Das Paper argumentiert nun, dass es eine einfachere Erklärung gibt. Sie liegt in der Art und Weise, wie Menschen ganz allgemein Häufigkeiten schätzen. Bei Unsicherheit bei der Schätzung von Häufigkeiten sind Menschen nämlich auch von anderen Vorannahmen bezüglich Häufigkeiten – zum Beispiel von Gruppen – beeinflusst, die dann rein statistisch meist über denen von kleinen Häufigkeiten und unter denen von großen Häufigkeiten liegen.“
„Vereinfacht kann man es sich in Bezug auf die Schätzung von Gruppengröße so vorstellen: Wenn ich nicht genau weiß, wie viele Menschen mit türkischem Migrationshintergrund es in Deutschland gibt, wird meine Schätzung auch einen Teil zufälligen Ratens beinhalten und zufälliges Raten zieht Häufigkeitsschätzung in Richtung 50 zu 50 Prozent. Würden 100 Menschen Häufigkeiten komplett zufällig raten, wäre ihre mittlere Schätzung bei circa 50 Prozent, egal um welche Gruppe es geht. Das entspräche dann einer Überschätzung kleiner und Unterschätzung großer Gruppen.“
„Das Paper macht also einen wichtigen Punkt, denn sparsame Theorien sind immer besser. Allerdings ist der Punkt nicht wirklich neu. Die Autoren weisen also zu Recht darauf hin, dass eine Reihe von Befunden viel einfacher durch längst bekannte allgemeinpsychologische Gesetzmäßigkeiten zu erklären sind.“
Methodische Qualität
„Das Paper entspricht hohen wissenschaftlichen Standards. Die Ergebnisse erscheinen plausibel und überzeugend.“
Einordnung in den Forschungsstand
„Die Tatsache, dass Schätzfehler, die zum Beispiel durch Unsicherheit ausgelöst werden, zu einer Überschätzung von kleinen und einer Unterschätzung von großen Häufigkeiten führt, ist schon lange bekannt.“
„Dies wird auch als ‚Regression zur Mitte‘ bezeichnet und ist ein statistisches Gesetz, dass bereits unter anderem von Francis Galton, aber auch Daniel Kahneman beschrieben wurde.“
Implikationen der Studie
„Eine Implikation ist, dass die Häufigkeitsschätzung von Menschen gegenüber Minderheiten mehr über die Prinzipien aussagt, wie Menschen Häufigkeiten generell einschätzen, als über die Frage, ob Menschen Vorurteile gegenüber Minderheiten haben oder nicht.“
Leiter des Arbeitsbereichs Kognitive Modellierung und Neurowissenschaften des Entscheidens und Professor für Allgemeine Psychologie, Universität Hamburg
Kernaussage der Studie
„Die zentrale Aussage der Studie ist, dass Menschen die Größe bestimmter Populationen wie zum Beispiel ethnischer Minderheiten einschätzen, in dem sie die konkrete Abschätzung der spezifischen Population selbst mit Annahmen über die generelle Größe von Populationen kombinieren. Je unsicherer man sich dabei ist – zum Beispiel je weniger man über eine Population weiß – desto stärker wird das Urteil durch die generelle Größeneinschätzung beeinflusst.“
„Mit dieser Annahme – sowie mit einer weiteren Annahme über die mentale Repräsentation von Zahlen im logarithmischen Raum – gelingt es den Autoren zu erklären, warum der Anteil der Population von Minderheiten systematisch überschätzt wird. Dieser allgemeinpsychologische Ansatz steht dabei im Kontrast zu sozialpsychologischen und politischen Erklärungsversuchen. Was den allgemeinpsychologischen Ansatz der aktuellen Studie dabei besonders überzeugend macht, sind die Tatsachen, dass nur dieser Ansatz auch erklären kann, warum Minderheiten sich selbst in ihrer Größe überschätzen, warum Mehrheiten überschätzt werden und warum sozialpolitisch irrelevante Größeneinschätzungen, wie etwa die Anzahl von Menschen mit einem Personalausweis, auf genau dieselbe Art und Weise verzerrt werden.“
Methodische Qualität
„Methodisch ist die Studie sauber herausgearbeitet. Besonders lobenswert ist die Kombination aus der Analyse existierender Daten und der Hinzunahme neuer Daten, um Lücken zu füllen, damit die einzigartigen Vorhersagen der vorgestellten Theorie getestet werden können. Zudem ist das präsentierte Modell auf elegante Art und Weise einfach, denn es basiert im Prinzip nur auf zwei Mechanismen: Bayesianischer Integration (Ein statistischer Ansatz bei Unsicherheit, um bestehende Vorannahmen mit neuen Daten zu kombinieren; Anm. d. Red.) und logarithmischer Zahlenrepräsentation. Diese sind zudem in der Allgemeinen Psychologie und den Kognitiven Neurowissenschaften fest etabliert.“
Implikationen der Studie
„Eine wichtige Erkenntnis und mögliche Implikation dieser Studie ist die Rolle von Unsicherheit beim Einschätzen von Populationsgrößen. Je höher die Unsicherheit, desto stärker die Verzerrung, und desto eher wird eine Minderheit in ihrer Größe überschätzt. Dem könnte man entgegenwirken, indem man das Wissen um Minderheiten sowie den Kontakt mit Minderheiten erhöht. Wenn eine Menschengruppe mehr über eine andere Menschengruppe weiß, wird sie sich in ihren Größeneinschätzungen – und möglicherweise auch in anderen Einschätzungen – weniger durch Vorannahmen und gegebenenfalls Vorurteile beeinflussen lassen.“
Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung und Professor für Sozialisation und Konfliktforschung an der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Bielefeld
Kernaussage der Studie
„In Zeiten globaler und weltweiter Ungewissheit entdeckt die Studie mit einem theoretisch genauen wie methodisch klaren Blick, wie Menschen mit Ungewissheit umgehen: Sie passen die Informationen an ihre Vorannahmen an und kommen zu massiven Fehleinschätzungen gerade in Bezug auf demografische Fakten. So werden Minderheiten zum Beispiel viel größer wahrgenommen, wenn Menschen unter Ungewissheitsbedingungen Schätzungen abgeben. Wir verlassen uns auf unsere Erwartungen und Vorannahmen, egal was um welche Einschätzung es sich handelt.“
„Das führt in vielen Fällen zu Verzerrungen wie auch dazu, dass wir unter Bedingungen von Ungewissheit Vorannahmen eher bestätigen als sie zurückstellen. Ungewissheit wird so in falsche Gewissheit navigiert.“
„Und diese kognitiven Fehler machen alle und scheinbar über alles: Egal, ob es um Immigranten geht und wie viele sie sind, oder darum, wer Handys nutzt!“
Implikationen der Studie
„Für Medien, die demografische Informationen präsentieren, ist das eine Herausforderung wie Chance. Sie müssen einerseits mit einer verzerrten Informationsverarbeitung rechnen, können andererseits aber durch guten Journalismus gerade in Krisenzeiten Fakten liefern. Gesellschaftlich ist die menschliche Verzerrung eine besondere Herausforderung. Da ungewisse Zeiten auch Zeiten des Populismus sind, kann das allerdings gefährlich werden. Populisten können darauf bauen, dass sie Vorurteile triggern können, indem sie Menschen suggerieren, dass sie ihren Alltagsverstand einschalten und auf den gesunden Menschenverstand vertrauen sollten.“
„Interessenkonflikte bestehen keine.“
„Es besteht kein Interessenkonflikt meinerseits.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Guay B et al. (2025): Quirks of cognition explain why we dramatically overestimate the size of minority groups. PNAS. DOI: 10.1073/pnas.2413064122.
Prof. Dr. Hans Alves
Professor für Soziale Kognition, Ruhr-Universität Bochum
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Interessenkonflikte bestehen keine.“
Prof. Dr. Sebastian Gluth
Leiter des Arbeitsbereichs Kognitive Modellierung und Neurowissenschaften des Entscheidens und Professor für Allgemeine Psychologie, Universität Hamburg
Angaben zu möglichen Interessenkonflikten
„Es besteht kein Interessenkonflikt meinerseits.“
Prof. Dr. Andreas Zick
Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung und Professor für Sozialisation und Konfliktforschung an der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Bielefeld