Wenig Zucker in den ersten 1000 Lebenstagen schützt vor chronischen Krankheiten
Menschen, die während der Zuckerrationierung nach dem zweiten Weltkrieg geboren wurden, haben ein niedrigeres Risiko für Diabetes und Bluthochdruck
die Zuckerrationierung 1953 im Vereinigten Königreich ermöglicht das besondere Studiendesign, ein „natürliches Experiment“
Expertin und Experten unterstreichen die Relevanz von Zuckerrestriktion für die Gesundheit und betonen die Besonderheiten dieses Studiendesigns
Die Rationierung von Zucker in den ersten Lebensmonaten nach Zeugung senkt das Risiko für Typ-2-Diabetes und Bluthochdruck und verzögert den Ausbruch der Krankheiten um vier beziehungsweise zwei Jahre. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die im Fachjournal „Science“ veröffentlicht wurde (siehe Primärquelle). Ein geringerer Zuckerkonsum während der Schwangerschaft wäre allein für etwa ein Drittel der Risikoreduktion für das sich entwickelnde Kind verantwortlich.
Studienarzt in der Klinik für Endokrinologie und Stoffwechselmedizin (Deutsches Zentrum für Diabetesforschung / DZD), Campus Benjamin Franklin (CBF), Charité – Universitätsmedizin Berlin
Methodik der Studie
„Die Studie nutzt einen ungewöhnlichen, cleveren Ansatz, um die Auswirkung des Zuckerkonsums auf die Gesundheit einer großen Bevölkerungsgruppe zu untersuchen. Durch Gegenüberstellung von Menschen die vor beziehungsweise nach Ende der Zuckerrationierung gezeugt, geboren und ernährt wurden, ergibt sich ein relativ fairer Vergleich, den übliche Beobachtungs- oder Fall-Kontrollstudien oftmals nicht bieten. Der Begriff ‚natürliches Experiment‘ ist gut gewählt, auch wenn es trotzdem methodische Einschränkungen gibt, die sich mit diesem Ansatz nicht vermeiden lassen.“
Mögliche Einschränkungen der Methodik
„Zeitgleich mit dem Ende der Zuckerrationierung veränderte sich das Ernährungsmuster der Bevölkerung durch gesellschaftlichen Wandel auch in anderen Aspekten, zum Beispiel bei der Fettzufuhr und dem Fleischkonsum. Diese Änderungen fielen kleiner aus, daher messen die Autoren diesen Veränderungen eine vernachlässigbare Wirkung bei, was zumindest teilweise nachvollziehbar ist. Auch andere Lebensstilfaktoren haben sich aber in der Zeit mehr oder weniger verändert – Bewegungsmuster, Luftqualität, Nikotinkonsum, psychische Belastung im Nachkriegsleben. Alle diese Faktoren beeinflussen das Ungeborene, das Neugeborene und den späteren Lebensverlauf mit, auch über Erkrankungen, die ihrerseits Adipositas, Typ-2-Diabetes und Bluthochdruck mitbedingen. Im Trend zeigen die Autoren zum Beispiel einen ähnlichen Risikoverlauf für Depressionen. Diese zusätzlichen Lebensstilfaktoren wurden in der Studie aber nicht alle mitgemessen, so dass man die Ergebnisse nicht dafür korrigieren kann. Eine Unsicherheit bezüglich der Effektgröße bleibt.“
Einordnung der Ergebnisse
„Typ-2-Diabetes und Bluthochdruck sind häufige Erkrankungen. Eine Risikoreduktion um 20 oder 35 Prozent bedeutet einen großen Unterschied in der absoluten Fallzahl. Auch eine Verzögerung des Auftretens um mehrere Jahre ist ein deutlicher Effekt. Beide Aussagen sind zu deutlich, um allein an der Zuckerexposition rund um die Geburt zu liegen, so plausibel die Analyse auch ist.“
„Überraschend ist die Größenordnung des Effekts, die dem Zuckerkonsum vor, in und nach der Schwangerschaft durch diese Analyse zugesprochen wird. Für Beobachtungsstudien ist eine Überschätzung eines Effekts nicht ungewöhnlich. Andere parallel verlaufende Lebensstilfaktoren (auf individueller und gesamtgesellschaftlicher Ebene) tragen gleichsinnig zu Gesundheitsrisiken bei, lassen sich aber bei einer solchen Studie nicht sauber abtrennen.“
Aktueller Wissensstand
„Aus Tierexperimenten ist bekannt, dass schon die bloße Überernährung oder ein Diabetes des trächtigen Muttertieres unabhängig von genetischen Risikofaktoren den Stoffwechsel des Nachwuchses beziehungsweise sein Risiko für metabolische Erkrankungen erhöht. Am Menschen ist bekannt, dass die sehr frühzeitige zuckerreiche Ernährung in der Kindheit, Übergewicht in jungen Jahren und ein ‚familiär ungesundes Ernährungsmuster‘ die Chancen auf spätere Erkrankungen deutlich erhöhen. Süßes ist von Geburt an ein attraktiver Reiz, der Belohnungssignale im Gehirn auslöst. Durch Zuckerverzicht wird der Geschmackssinn empfindlicher und wir benötigen weniger Zucker für die gleiche ‚Belohnung‘. Langfristig führt eine Zuckersparsamkeit zu kontrollierterer Ernährung und einem geringeren Risiko für Übergewicht.“
„Beim Menschen – außerhalb eines komplexen Studienexperiments – können aber auch genetische Faktoren in der Familie oder ganz andere Umweltfaktoren mit hineinspielen. Die neuen Ergebnisse dieser großen Beobachtungsstudie passen jedoch insgesamt zum bisherigen Wissensstand.“
Effekt von Zucker in den ersten 1000 Tagen
„Ein Teil des Effekts beginnt schon vor der Zeugung des Kindes: Zuckerkonsum führt wie jeder Aspekt unseres Lebensstils – also Bewegung, Ernährung, Umweltgifte, Rauchen und so weiter – zu Veränderungen des Stoffwechsels und zu langfristigen Veränderungen der Genaktivität in sehr vielen Genen. Dabei werden nicht die Gene selbst verändert, sondern Ablesebereiche hervorgehoben oder verdeckt. Diese ‚epigenetischen‘ Markierungen können auch wieder mehr oder weniger schnell verschwinden, wenn sich der Lebensstil bessert. Diese Markierungen finden in allen Zellen des eigenen Körpers statt – nicht nur in den stoffwechselrelevanten, sondern auch in den Keimzellen, die die Grundlage der nächsten Generation darstellen. Und so können Lebensstilfaktoren erbliche Veränderungen des elterlichen Stoffwechsels (und anderer Körperfunktionen) hervorrufen, die an den Nachwuchs weitergegeben werden und dessen Stoffwechsel sowie damit verbundene Langzeitrisiken beeinflussen. Der Nachwuchs kann seinerseits durch einen gesunden Lebensstil diese Markierungen wieder neutralisieren, so dass die nachfolgende Generation wieder ‚normale‘ Risiken aufweist. Anders als klassische genetische Risikofaktoren ändert sich also die Erblichkeit eines Gesundheitsrisikos in Abhängigkeit vom Lebensstil. Solche epigenetischen Mechanismen sind nicht nur für Stoffwechselerkrankungen, sondern zum Beispiel auch für psychische Erkrankungen beschrieben. Tritt hoher Zuckerkonsum erst nach der Geburt im Leben auf, kommen die frühkindliche Prägung auf süße Lebensmittel und generell ungesunde Essgewohnheiten dazu. Zucker wird nicht isoliert gegessen, sondern zum Großteil in typischen hochverarbeiteten Lebensmitteln und süßen Getränken konsumiert. In der Kindheit erworbenes Übergewicht lässt sich im Erwachsenenalter schlechter reduzieren, unter anderem weil das Fettgewebe in Menge und Funktion bereits vorgeschädigt ist.“
Derzeitige Ernährungsempfehlung für Zucker
„Die aktuellen Ernährungsempfehlungen legen jedem Menschen nahe, den Zuckerkonsum möglichst zu reduzieren. Das gilt für ältere und jüngere Menschen unabhängig vom Geschlecht, egal ob mit oder ohne Kinderwunsch. Die Umsetzung dieser Zuckerersparnis ist jedoch schwierig. Zucker bedient unser Belohnungssystem ähnlich wie es klassische Suchtmittel tun; als Zuckerkonsument möchte man rasch öfter und immer mehr Zucker verzehren. Zu viele Lebensmittel enthalten künstlich zugesetzten Zucker, obwohl es technisch vermeidbar wäre. Das prägt unsere Geschmacksvorlieben selbst bei Produkten, die natürlicherweise gar keinen Zucker enthalten (etwa Wurstprodukte oder herzhafte Fertigmahlzeiten). Und all diese zuckerreichen Produkte sind in der Regel preiswerter als gesunde Speisen und Getränke, weshalb gerade für Menschen mit geringem Einkommen der Umstieg auf eine gesündere, zuckerarme Ernährung besonders schwierig ist. Einen verlässlichen Grenzwert für unbedenklichen Zuckerkonsum hinsichtlich der langfristigen Stoffwechselrisiken gibt es nicht; hierfür bräuchte es randomisiert-kontrollierte Studien mit langer Laufzeit und großer Probandenzahl, die generell in der Ernährungsforschung wünschenswert sind, sich aber zur Untersuchung von zuckerbedingten Risiken ethisch nicht eignen. Da Zucker kein essenzieller Nährstoff ist, ist die Empfehlung ‚so wenig wie möglich‘ am ehesten praxistauglich.“
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung, Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU)
Methodik der Studie
„Die Methodik der Studie ist innovativ und wissenschaftlich solide. Die Studie beruht auf einem sogenannten natürlichen Experiment: Nach dem Ende der Zuckerrationierung in Großbritannien im September 1953 verdoppelte sich der durchschnittliche Zuckerkonsum unter Erwachsenen schlagartig von rund 40 Gramm auf rund 80 Gramm pro Tag und Kopf. Personen, die in den zwei Jahren vor Ende der Zuckerrationierung geboren wurden, entwickelten in ihrem späteren Leben deutlich seltener Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck und Adipositas als Personen, die nach dem Ende der Zuckerrationierung gezeugt wurden. Im Mutterleib und während der ersten beiden Lebensjahre – den sogenannten ersten 1000 Tagen – vor einer zu hohen Zuckerzufuhr geschützt zu sein, senkt also das Risiko, später im Leben an Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck und Adipositas zu erkranken.“
„Bemerkenswert ist, dass Personen, die kurz nach dem Ende der Zuckerrationierung gezeugt wurden (und die daher bereits im Mutterleib einer höheren Zuckerzufuhr ausgesetzt waren) auch im höheren Erwachsenenalter immer noch deutlich mehr Zucker verzehrten als Menschen, die kurz vor Ende der Zuckerrationierung geboren wurden. Dies deutet darauf hin, dass die Vorliebe für Süßes schon im Mutterleib und der frühen Kindheit geprägt wird, und dann ein Leben lang Bestand hat. Dies unterstreicht die Bedeutung einer ausgewogenen Ernährung in Schwangerschaft und Kindheit.“
Mögliche Einschränkungen der Methodik
„Die AutorInnen haben verschiedene Vorkehrungen getroffen, um sicherzustellen, dass ihre Ergebnisse belastbar sind und nicht einen nur scheinbaren Zusammenhang widerspiegeln. So zeigen sie zum Beispiel, dass die vor beziehungsweise nach Ende der Zuckerrationierung gezeugten Kinder in ihrer Studie in Hinblick auf diverse Merkmale sehr ähnlich waren, und sich die Ernährung abgesehen von der Zuckerzufuhr in dieser Zeit kaum änderte. Sie können auch zeigen, dass die höheren Krankheitsraten der späteren Geburtsjahrgänge nicht durch verbesserte diagnostische Möglichkeiten und Untersuchungsmethoden zu erklären sind, und auch nicht durch allgemeine, längerfristige Trends. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass das höhere Erkrankungsrisiko der späteren Geburtsjahrgänge tatsächlich durch den höheren Zuckerkonsum zu erklären ist.“
Einordnung der Ergebnisse
„Die beobachteten Effekte sind im hohen Maße relevant. Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck und Adipositas zählen zu den häufigsten Krankheiten in Deutschland und weltweit. Sie sind für einen erheblichen Verlust an Lebenszeit und Lebensqualität verantwortlich und verursachen hohe Gesundheitsausgaben. Eine relative Risikoreduktion um 20 bis 35 Prozent durch einen geringeren Zuckerkonsum ist daher als ein großer, relevanter Effekt zu werten. Auch der spätere Krankheitsbeginn ist relevant: Je früher Typ-2-Diabetes und Bluthochdruck im Leben auftreten, desto größer ist das Risiko für Folgeerkrankungen und Spätschäden.“
Derzeitige Ernährungsempfehlung für Zucker
„Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfehlen, dass maximal zehn Prozent der Gesamtenergiezufuhr aus Zucker stammen sollte – bei einem durchschnittlichen Erwachsenen entspricht dies rund 50 Gramm Zucker pro Tag. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) empfiehlt allgemein, so wenig zugesetzten Zucker wie möglich zu verzehren. Kinder unter zwei Jahren sollten möglichst gar keinen zugesetzten Zucker verzehren. Die Ergebnisse der jetzt neu erschienen Studie unterstreichen die Bedeutung dieser Empfehlungen.“
„Das Problem ist: Der tatsächlich Zuckerkonsum in Deutschland ist im Durchschnitt fast doppelt so hoch wie empfohlen, unter Erwachsenen ebenso wie unter Kindern. Die WHO und andere Fachorganisationen sprechen sich daher für Maßnahmen für die Förderung einer gesunden Ernährung aus. Hierzu gehören verbindliche Regeln zum Schutz von Kindern vor Werbung für Produkte mit einem hohen Zucker-, Salz- und Fettgehalt, eine nach dem Zuckergehalt gestaffelte Herstellerabgabe auf Softdrinks, und verbindliche Qualitätsstandards für die Verpflegung in Krippen, Kitas und Schulen. Die Bundesregierung hat verschiedene Initiativen in diesem Bereich angekündigt, allerdings kommt die Umsetzung nicht voran. Die neu erschienene Studie zeigt, wie wichtig es ist, dass sich dies ändert.“
Professor für Angewandte Ökonometrie und Politikevaluation, Universität Freiburg, Schweiz
Methodik und mögliche Einschränkungen
„Die Studie vergleicht britische Kohorten, die vor der Geburt (in utero) oder als Kleinkinder Lebensmittel- und insbesondere Zucker-Rationierungen ausgesetzt waren, mit etwas später geborenen Kohorten ohne Rationierung. Sie findet heraus, dass die späteren Kohorten im Alter von über 60 Jahren häufiger an Bluthochdruck und Diabetes leiden, was als Effekt des nachweislich stark gestiegenen Zuckerkonsums nach Aufhebung der Rationierung interpretiert wird. Allerdings lässt sich nicht vollständig ausschließen, dass sich die früheren und späteren Kohorten nicht nur in Bezug auf die Rationierung, sondern auch in anderen gesundheitsrelevanten Faktoren unterscheiden, die nicht mit dem frühkindlichen Zuckerkonsum zusammenhängen (zum Beispiel dem Gesundheitsverhalten im späteren Leben). Derartige Faktoren könnten den in der Studie gefundenen substanziellen negativen Effekt des Zuckerkonsums auf die Gesundheit bis zu einem gewissen Grad verfälschen, wenngleich man über den Grad nur spekulieren kann. Weitere methodische Robustheitschecks wären wünschenswert: Zum Beispiel ob die Ergebnisse stabil bleiben, wenn unterschiedliche, insbesondere kleinere Zeitfenster für die Definition der Kohorten verwendet werden, oder wenn flexiblere statistische Verfahren (mit weniger Modellannahmen) zum Einsatz kommen.“
Leiterin der Nachwuchsgruppe Neuronale Schaltkreise, Deutsches Institut für Ernährungsforschung (DIfE), Potsdam-Rehbrücke
Einordnung der Ergebnisse
„Es ist in der Primärliteratur gut dokumentiert, dass eine übermäßige Nährstoffaufnahme in der frühen Entwicklung – sowohl in Form von erhöhtem Fett als auch Zucker – zu Stoffwechselveränderungen bei den Nachkommen führt. Diese Veränderungen reichen vom Hypothalamus – dem Teil des Gehirns, der den Stoffwechsel und das Essverhalten reguliert – bis hin zum Belohnungssystem und weiter zu Auswirkungen auf die soziale und kognitive Funktion. Ein so klarer Effekt allein durch Zucker auf die langfristigen Gesundheitsfolgen verdeutlicht jedoch die entscheidende Rolle dieses Makronährstoffs in der frühen Entwicklung.“
Auf die Frage, inwiefern die Ergebnisse, dass ein hoher Zuckerkonsum in der Schwangerschaft das Risiko für Diabetes und Bluthochdruck beim ungeborenen Baby erhöht, überraschend sind:
„Diese Erkenntnisse sind überhaupt nicht überraschend. Tatsächlich gibt es eine Vielzahl an Belegen in der Primärliteratur, dass ein erhöhter Zuckerkonsum negative Auswirkungen auf das sich entwickelnde Kind hat. Eine erhöhte Blutzuckerkonzentration der Mutter in der frühen Entwicklung steht in deutlichem Zusammenhang mit Veränderungen in der Glukose- und Insulinhomöostase (Gleichgewicht zwischen Glukose- und Insulinspiegel; Anm. d. Red.) des Kindes im späteren Leben.“
Effekt von Zucker in der Schwangerschaft auf Kind und Mutter
„Ein erhöhter Zuckerkonsum führt bei der Mutter zu einer erhöhten Insulinproduktion. Das erhöhte zirkulierende Glukoselevel kann jedoch auch direkt durch die Plazenta zum sich entwickelnden Baby gelangen. Tatsächlich ist dies bei Bedingungen wie Schwangerschaftsdiabetes ein großes Problem, da der Fötus dann auf den erhöhten Glukosespiegel reagiert und zu viel des Hormons Insulin produziert, was bei der Geburt zu Hypoglykämie (Unterzuckerung im Blut; Anm. d. Red.) beim Kind führen kann.“
„Aus Tiermodellen wissen wir, dass mütterliche Hyperglykämie (Überzuckerung im Blut; Anm. d. Red.) zu Veränderungen in der Gehirnentwicklung des Babys führt. Studien zeigen, dass die hypothalamische Entwicklung durch übermäßige Insulinsignalisierung beeinträchtigt wird. Dies führt zu fehlerhaften Verbindungen zwischen Gehirn und Bauchspeicheldrüse und damit zu einer gestörten Glukose- und Insulinhomöostase im Erwachsenenalter der Nachkommen.“
„Schwangerschaftsdiabetes, also erhöhter Blutzucker im dritten Schwangerschaftstrimester, nimmt ebenfalls dramatisch zu und hat sich in Deutschland allein in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Es wäre interessant zu erfahren, wie die Raten des Schwangerschaftsdiabetes vor und nach der Zuckerzuteilung in diesem Datensatz aussahen.“
Derzeitige Ernährungsempfehlung für Zucker
„Während der Schwangerschaft richten sich die meisten Ernährungsempfehlungen auf eine allgemein gesunde Ernährung mit wenig verarbeiteten Lebensmitteln und geringem Zuckerkonsum. Die Realität ist jedoch, dass viele Menschen den bereits verfügbaren Richtlinien nicht folgen. Hinzu kommen versteckte Zucker, beispielsweise in Fruchtsäften, die oft schon in frühen Entwicklungsphasen an Kinder gegeben werden und zu einem frühzeitigen Kontakt mit hohen Zuckermengen führen.“
„Eine ähnliche negative Wirkung auf die Nachkommen wurde auch bei künstlichen Süßstoffen festgestellt, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass alle Zusätze, die Lebensmitteln und Getränken zur Süßung hinzugefügt werden, letztlich negative Auswirkungen auf das ungeborene Kind und Kleinkinder haben.“
„In den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) gibt es keine spezifischen Aussagen zum Thema Zucker in der Schwangerschaft. Der Fokus liegt vielmehr auf dem Verzehr einer bereits für nicht-schwangere Personen empfohlenen gesunden Ernährung [1]. Im Allgemeinen profitieren wir möglicherweise alle – sowohl jetzt als auch zukünftige Generationen – wenn wir die Richtlinien in Bezug auf zugesetzten Zucker genau befolgen und uns an das Motto erinnern: Süßes, Salziges und Fettiges – besser stehen lassen.“
Leiterin des Instituts für Kinderernährung, Max Rubner-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel, Karlsruhe , und Professorin für Stoffwechsel- & Ernährungsforschung an der Uniklinik Düsseldorf sowie Vorsitzende der Nationalen Stillkommission
Einordnung der Ergebnisse
„Die Ergebnisse der Studie sind beeindruckend und auf der anderen Seite überrascht mich der Effekt nicht. Laut den Autor:innen ist der Effekt vergleichbar zu dem einer Studie, die im Fachjournal ‚Lancet‘ erschienen ist [2], auch wenn der experimentelle Ansatz anders ist. Von unserer eigenen Forschung am Mausmodell zu ‚nutritional overload‘ in der Schwangerschaft wissen wir auch, dass sich eine Ernährung mit einem hohen Zuckeranteil direkt auf die Gesundheit der Nachkommen auswirkt.“
„Die Studie bestätigt, dass die Ernährung ganz früh im Leben eine große Bedeutung hat und dass Prävention sehr früh begonnen werden muss. Wenn es begrenzte Ressourcen für Prävention gibt, dann bekräftigt die Studie, dass man sie in diese frühe Phase stecken sollte.“
Auf die Frage, inwiefern die Ergebnisse, dass ein hoher Zuckerkonsum in der Schwangerschaft das Risiko für Diabetes und Bluthochdruck beim ungeborenen Baby erhöht, überraschend sind:
„Diese Erkenntnis ordnet sich zu dem Wissen im Forschungsfeld ein. In unseren Versuchen mit Mäusen kommen wir beispielsweise mit ‚high calorie diets‘ zu ähnlichen Ergebnissen. Nicht nur Zucker hat einen Effekt auf die Entwicklung des Kindes, auch andere Nährstoffe. Und dann bleibt auch noch die Frage, welcher Effekt auf der anderen Seite durch zu wenig günstige Nährstoffe entsteht, das heißt, wenn die Frauen sich nicht ausgewogen ernähren. Die Essgewohnheiten der Mütter (und Väter) übertragen sich sehr früh auf das Kind. Das Essverhalten der kleinen Kinder lässt Rückschlüsse auf das elterliche Essverhalten zu, das sich bei den Kindern widerspiegeln kann.“
Effekt von Zucker in der Schwangerschaft auf Kind und Mutter
„Wenn die Mutter zu viel Zucker im Blut hat – wie zum Beispiel bei Frauen mit Schwangerschaftsdiabetes –, dann geht der Zucker von der Mutter aufs Kind über. Der Fötus reagiert auf den erhöhten Zuckergehalt und schüttet Insulin aus, es kommt zur Hyperinsulinämie. Das bedeutet, dass durch die anabole Wirkung des Insulins das Kind schneller wächst und ein höheres Geburtsgewicht entwickelt. Diese Kinder haben ein erhöhtes Risiko für Übergewicht.“
Derzeitige Ernährungsempfehlung für Zucker
„Die Ernährungsempfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für Schwangere empfiehlt aktuell lediglich unter anderem ‚sparsam Süßigkeiten und zuckerhaltige Getränke‘ zu konsumieren. In der bestehenden Leitlinie zu Adipositas in der Schwangerschaft wird das Thema Ernährung nur wenig adressiert. Das sollte bei der nächsten Aktualisierung, die nun ansteht, mit einbezogen werden.“
„In unserer PEACHES-Studie, einer Auswertung einer Langzeitkohorte mit 1700 Mutter-Kind-Paaren, untersuchen wir den Effekt von bereits zu Beginn der Schwangerschaft bestehendem Übergewicht der Mutter auf die Kinder. Eine Beobachtung, die wir mit der Studie machen konnten, ist, dass Frauen mit einem hohen Body-Mass-Index, die am Ende des zweiten Schwangerschaftstrimesters einen negativen Schwangerschaftsdiabetestest hatten, dann am Ende des dritten Trimesters trotzdem einen gestörten Zuckerstoffwechsel aufwiesen. Das lässt darauf schließen, dass die Frauen nach dem negativen Testergebnis wieder mehr aßen und vermutlich auch mehr Zucker konsumierten. Deshalb sollte es auch ein BMI-abhängiges Management in der Schwangerschaft geben, bei dem Frauen im dritten Trimester ein weiterer Test angeboten wird und die Patientinnen aufgeklärt werden.“
„Man muss die Ernährung zu einem wichtigen Thema machen. Durch Prävention kann hier viel – das heißt, auch schwere Erkrankungen – verhindert werden. Ganz nach dem Motto: Am Anfang des Lebens spielt die Musik. Es ist wichtig, dass diese Studie in ‚Science‘ veröffentlicht wurde, damit die Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt wird.“
„Ich erhielt Fördermittel des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung e.V. (DZD), der Deutschen Diabetes Gesellschaft, vom Almond Board of California, der California Walnut Commission, der Wilhelm-Doerenkamp-Stiftung, J. Rettenmaier & Söhne und Beneo Südzucker sowie persönliche Zuwendungen von Lilly Deutschland, Sanofi, Berlin Chemie, Boehringer-Ingelheim und der JuZo-Akademie.“
„Ich gebe an, Forschungsmittel vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) und Bildung und Forschung (BMBF) sowie der Europäischen Union erhalten zu haben, sowie Honorare und Erstattungen von Fachgesellschaften, Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen, darunter der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, der Deutschen Adipositas Gesellschaft, der Deutschen Diabetes Gesellschaft, der Österreichischen Gesellschaft für Ernährung, der Weltgesundheitsorganisation, WWF Deutschland, der Verbraucherzentrale Bundesverband, dem Kompetenznetz Adipositas und der Dr. Rainer Wild-Stiftung.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Gracner T et al. (2024): Exposure to sugar rationing in the first 1000 days of life protected against chronic disease. Science. DOI: 10.1126/science.adn5421.
Weiterführende Recherchequellen
Science Media Center (2023): Auswirkungen der Besteuerung zuckergesüßter Getränke. Statements. Stand: 21.11.2023.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. (2018): Handlungsempfehlungen - Ernährung in der Schwangerschaft.
[2] Diabetes Prevention Program Research Group (2009): 10-year follow-up of diabetes incidence and weight loss in the Diabetes Prevention Program Outcomes Study. The Lancet. DOI:10.1016/S0140-6736(09)61457-4.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] World Health Organization (2020): Healthy diet.
[II] Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (2024): Bericht zur Markt- und Versorgungslage Zucker - 2024.
[III] Heilmann A et al. (2021): Reduzierung des Zuckerkonsums für eine bessere Mundgesundheit – Welche Strategien sind Erfolg versprechend?. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz. DOI: 10.1007/s00103-021-03349-2.
[IV] Bucher Della Torre S et al. (2019): Grundlagenpapier Zucker Grundlagenpapier betreffend Ausrichtung der Aktivitäten zur Reduktion des Zuckerkonsums in der Schweiz. Grundlagenpapier des Schweizer Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV.
Dr. Stefan Kabisch
Studienarzt in der Klinik für Endokrinologie und Stoffwechselmedizin (Deutsches Zentrum für Diabetesforschung / DZD), Campus Benjamin Franklin (CBF), Charité – Universitätsmedizin Berlin
Dr. Peter von Philipsborn
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung, Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU)
Prof. Ph.D. Martin Huber
Professor für Angewandte Ökonometrie und Politikevaluation, Universität Freiburg, Schweiz
Dr. Rachel Lippert
Leiterin der Nachwuchsgruppe Neuronale Schaltkreise, Deutsches Institut für Ernährungsforschung (DIfE), Potsdam-Rehbrücke
Prof. Dr. Regina Ensenauer
Leiterin des Instituts für Kinderernährung, Max Rubner-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel, Karlsruhe , und Professorin für Stoffwechsel- & Ernährungsforschung an der Uniklinik Düsseldorf sowie Vorsitzende der Nationalen Stillkommission