Wie Biodiversität gemessen werden kann
Vorgestern haben die europäischen Umweltministerinnen und -minister das seit Monaten umstrittene Renaturierungsgesetz angenommen [1] [1a] [2] [3] – ein zentrales Vorhaben der EU, Ökosysteme zu schützen und wieder herzustellen. Es war bis zuletzt unklar, ob eine qualifizierte Mehrheit das Gesetz befürwortet – also die Ministerinnen und Minister von mindestens 15 Mitgliedsstaaten, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Mit der österreichischen Ministerin Leonore Gewessler, die gegen den Willen ihrer Koalitionspartner für das Gesetz stimmte, wurde nun die nötige Mehrheit erreicht. Auf deutscher Ebene gibt es mit der Bundesinitiative Natürlicher Klimaschutz und der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt vergleichbare Initiativen. Um den Erfolg solcher Vorhaben zu messen, wird der Fortschritt mit dafür entwickelten Sets an Biodiversitätsindikatoren regelmäßig überprüft.
Den voranschreitenden Verlust der Biodiversität und die Zerstörung von Ökosystemen anhand von messbaren Werten zu überwachen, ist herausfordernd. Beim Klimawandel gibt es eine zentrale Kennzahl, an der sich politische Maßnahmen orientieren können: die Treibhausgasemissionen, die in CO2-Äquivalenten angegeben werden können. Im Bereich der Biodiversität werden stattdessen viele verschiedene Indikatoren genutzt, die nur Teilaspekte beschreiben – etwa einzelne Lebensräume oder Artengruppen. Welche Indikatoren besonders aussagekräftig sind, ist für Laien schwer ersichtlich.
In diesem Fact Sheet zeigen wir anhand zweier Indikatoren des EU-Renaturierungsgesetzes, wie die Beurteilung von Ökosystemen und Biodiversität mithilfe von Indikatoren funktioniert. Zudem stellen wir dar, wie sich der Verlauf dieser Indikatoren in Deutschland und der EU in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat: Auf EU-Ebene zeigt sich sowohl bei Tagfaltern auf Wiesen und Weiden als auch bei Agrarlandvögeln ein starker Rückgang seit dem Start der Erhebung im Jahr 1990. Waldvogelarten konnten sich in den letzten zehn Jahren in der EU hingegen etwas erholen. Der deutsche Vogelindikator zeigt ähnliche Trends für Deutschland.
Dieses Fact Sheet kann hier als pdf heruntergeladen werden.
Abbildung 1: Verlauf des „Grassland Butterfly Index“ der EU seit 1990 berechnet bis 2020 [8]. Der Referenzwert 100 ist auf das Jahr 1990 festgelegt. Der graue Bereich beschreibt das 95%-Konfidenzintervall. Enthält Daten aus Belgien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Rumänien, Schweden, Slowenien, Spanien, Tschechien und Ungarn.
Abbildung 2: Verlauf des „Grassland Butterfly Index“ der EU. Dargestellt sind die Zeitreihen der Berechnungen aus 2018 [14] und 2020 [8]. Gestrichelte Kurven beschreiben das 95%-Konfidenzintervall. Die Zeitreihe aus 2018 (vor dem Brexit) beinhaltet noch Daten aus Großbritannien. Daten aus Italien sind erst ab dem Datenstand 2020 inbegriffen. Grafik macht deutlich: Verlauf der Zeitreihe kann rückwirkend korrigiert werden, wenn neue Länder hinzukommen oder ausgeschlossen werden oder die Methodik angepasst wird.
Warum Vögel?
Abbildung 3: Verlauf des „Common Bird Index“ und seiner Teilindikatoren für Wald und Agrarland von 1990 bis 2022 [15]. Gestrichelte Kurven beschreiben das 95%-Konfidenzintervall. Der Referenzwert 100 ist auf das Jahr 1990 festgelegt. Die Zeitreihen beinhalten Daten aus Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Ungarn und Zypern.
Abbildung 4: Verlauf des deutschen Indikators „Artenvielfalt und Landschaftsqualität“ mit seinen Teilindikatoren für Wald, Agrarlandschaften, Binnengewässer und Siedlungen von 1990 bis 2019. Referenzwert 100 für den Gesamtindikator und die Teilindikatoren sind die Zielwerte für 2030.
[1] Europäische Union (15.03.2024): Regulation of the European Parliament and of the Council on nature restoration.
[1a] Rat der Europäischen Union (17.06.2024): Nature restoration law: Council gives final green light. Pressemitteilung
[2] Science Media Center (2023): EU-Trilog beschließt Renaturierungsgesetz. Rapid Reaction. Stand: 10.11.2023.
[3] Science Media Center (2023): Renaturierungsgesetz: Wie lässt sich Europas zerstörte Natur wiederherstellen? Press Briefing. Stand: 10.07.2023.
[4] Ledger SEH et al (2023): Past, present, and future of the Living Planet Index. Npj Biodiversity. DOI: 10.1038/s44185-023-00017-3.
[5] Ritchie H (13.10.2022): Living Planet Index: what does an average decline of 69% really mean? Our world in data.
[6] Soldaat LL et al. (2017): A Monte Carlo method to account for sampling error in multi-species indicators. Ecological Indicators. DOI: 10.1016/j.ecolind.2017.05.033.
[7] Bundesumweltministerium (2023): Indikatorenbericht 2023 der Bundesregierung zur Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt.
[8] Van Swaay CAM et al. (2020): European Grassland Butterfly Indicator 1990-2020 Technical report. Butterfly Conservation Europe & SPRING/eBMS & Vlinderstichting.
[9] Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (16.05.2019): Falter im Sinkflug.
[10] Kühn E et al. (2023): Tagfalter-Monitoring Deutschland Jahresauswertung 2022. Oedippus.
[11] United Kingdom Butterfly Monitoring Scheme: Butterfly as indicators. Stand: 29.01.2024.
[12] Landesamt für Umwelt Bayern: Thymian-Ameisenbläulinng (Phengaris arion). Stand: 29.01.2024.
[13] Naturschutzbund Nordrhein-Westfalen: Der Hauhechel-Bläuling. Stand: 29.01.2024.
[14] Van Swaay CAM et al. (2018): European Grassland Butterfly Indicator 1990-2018 Technical report. Butterfly Conservation Europe & SPRING/eBMS & Vlinderstichting.
[15] Warren MS et al. (2021): The decline of butterflies in Europe: Problems, significance, and possible solutions. DOI: 10.1073/pnas.2002551117.
[16] PanEuropean Common Bird Monitoring Scheme (2023): European common bird indicators, 2023 update.
[17] European Environment Agency (08.06.2023): Common bird index in Europe.
[18] PanEuropean Common Bird Monitoring Scheme: PECBMS Methods. Stand: 29.01.2024.
[19] Brlik V et al. (2021): Long-term and large-scale multispecies dataset tracking population changes of common European breeding birds. Nature. DOI: 10.1038/s41597-021-00804-2.
[20] PanEuropean Common Bird Monitoring Scheme: Questions and Answers, Question 6.4: Is there any evidence that birds are good indicators for biodiversity as a whole? Stand: 29.01.2024.
[21] Rebhuhn Retten – Vielfalt fördern. Stand: 26.02.2024.
[22] PanEuropean Common Bird Monitoring Scheme: Questions and Answers, Question 2.3: What exactly do year to year changes in species index values stand for? Stand: 29.01.2024.
[23] Rigal S et al. (2023): Farmland practices are driving bird population decline across Europe. PNAS. DOI: 10.1073/pnas.2216573120.
[24] Umweltbundesamt (13.10.2023): Indikator: Artenvielfalt und Landschaftsqualität.
[25] Achtziger R et al. (2004): Nachhaltigkeitsindikator für die Artenvielfalt – ein Indikator für den Zustand von Natur und Landschaft in Deutschland. Angewandte Landschaftsökologie.